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1. Tag Flüeli-Ranft – Lungern

2. Tag Lungern – Brünigpass – Brienzwiler

3. Tag Brienzwiler – Interlaken

… mit nicht gerade der allerbesten Wetterprognose, 🙂

„Hattest Du gutes Wetter?“, „War die Landschaft schön?“, „Konntest Du laufen, wie Du wolltest?“

Ja. Im April fast nur strahlende Sonne zu haben, dazu die Küsten, die Wellen, die Blumen, das endlose Grün… das war ein Geschenk. Und ich durfte wieder für ein paar Momente das Gefühl haben, alles laufen zu können. Meine 40km nach Santillana und auch der kilometerintensive Camino als Ganzes haben mich wieder an das Gefühl erinnert, eine „strong“ peregrina zu sein.

„Hast Du wieder intensive Freunschaften geschlossen?“, „Hast Du tolle Männer getroffen?“, „Hattest Du Begegnungen mit Gott?“, „Hast Du vor Dankbarkeit geweint?“

Nein. Trotzdem war es wohl mein schönster Camino, wenn man die unterschiedlichen Caminos und Erfahrungen überhaupt vergleichen kann. Es war kein Camino der Begegnungen, der magischen Freundschaften, der großen Gefühle, von heulenden Verzweiflungen und heulenden Berührtheiten. Es war kein Abtauchen in eine völlig andere Welt, eine viel bessere und viel einfachere Welt. In der man Gott viel besser spürt und viel tiefsinnigere Menschen kennenlernt und sich viel leichter öffnen kann.

Vielleicht war es ein Camino im Stil von Güemes. Leise, wunderschön und doch irgendwie grundlegend beeindruckend und berührend.

Der Camino hat mich auf einem sanften Wölkchen gestärkt wieder in den Alltag geführt. Zum ersten Mal nicht als Bruchlandung, mit dem Gefühl, im normalen Leben überfordert zu sein und hier gar nicht diese wunderbare Erfüllung wie auf dem Camino, als peregrina empfinden zu können. Ein weiterer Schritt hin zu der Erkenntnis, dass der Camino kein dauerhafter Zufluchtsort ist, sondern eine Hilfe, die Wunder, die Freundschaften, die Dankbarkeit im normalen Leben besser wahrnehmen zu können. Mein Platz ist nicht in der Erinnerung an die wunderschönen Erlebnisse auf dem Camino und nicht in der Vorfreude auf weitere Caminos; mein Platz ist im Leben.

Meinen letzten Tag starte ich früh- und zum ersten Mal so, wie ich mir den Camino del Norte im Vorfeld intuitiv vorgestellt hatte: in leichtem Frühnebel. Es ist Sonntag, kein Mensch auf den Straßen und dazu ist alles noch so leise, watteweich, verwunschen. Einzig ein Postbote ist mit seinem Auto unterwegs; sicherheitshalber frage ich ihn gleich nach dem Weg. Ich bin richtig und bekomme noch alles Gute für meinen Weg nach Santiago mit auf die Reise. Ich werde doppelt wehmütig.

Meine Wegfindungssicherheit lässt heute schwer zu wünschen übrig, was vielleicht auch daran liegt, dass es heute reichlich Wegalternativen gibt. Schon am Morgen soll ein Abzweig zum Küstenweg E9 abzweigen, den ich mir auf keinen Fall entgehen lassen will. Nachdem der Camino an der Straße entlang geht, darf ich also ausnahmsweise nicht blind den Pfeilen nachtrotten. Mein kleiner Kartenabschnitt macht mich komplett meschugge; wirklich schwierig ist eigentlich nichts, aber ich habe es am Morgen noch nicht so im Griff mit den Distanzen und durch welchen Ort ich nun schon durch bin. Inmitten meiner Unsicherheit kommt mir hupend und winkend der Postler von Colombres entgegengefahren, ja, ja, richtiger Weg für Santiago.

Mir wird fast warm ums Herz, als es für eine Weile auf der vielbefahrenen Nationalstraße weitergeht. Ein Schild bittet um Achtung wegen der N634. Die drei Zahlen und diese Nationalstraße werde ich seit der Etappe vor Castro Urdiales nicht mehr vergessen. Und wohl auch nicht dieses beruhigende, heimelige Gefühl, das sich damit automatisch bei mir einstellt.

Ich verlasse die N634, dafür laufe ich jetzt neben Bahngleisen. Ich erinnere mich an den Satz in meinem Führer, dass sich auf dieser letzten Etappe Pilger, Bahn und Autos den engen Streifen zwischen dem Meer und den Bergen teilen. Intuitiv bin ich vorbereitet auf einen engen Fußweg, links die Autobahn, rechts die Schienen oder umgekehrt. Und ich bin mir gar nicht sicher, ob das so ein guter Abschluss ist.

Vorerst geht es aber durch liebliches Hinterland mit rustikalen Steinhäusern inmitten von endlosem Grün, heute alles verziert mit einem ganz kleinen Hauch Nebel. Ich bin ergriffen, und irgendetwas rührt wie in meinem Herzen.

Nach einem letzten Schlenker geht es dann wieder in die Nähe der rauschenden Nationalstraße. Trotz Straße und Bahnstrecke ist der erste Blick atemberaubend, die Bahn fährt hier allen Ernstes in Steinwurfnähe zum Meer entlang – umrahmt von ganz viel gelbem Ginster und ganz vielen glücklichen Kühen, denen die Seeluft um die Nase weht.

Das „Eingezwängtsein“ hatte ich mir deutlich schlimmer vorgestellt. Während ich noch auf Fotojagd bin, überholt mich von hinten ein Pilgerpulk. Ich erkenne die Kanadierin, Miguel und den Spanier mit Macho und bin etwas überrascht, wo die jetzt herkommen. Aber vor allem froh, dass Macho wieder mit seinem Pilgerrucksäckchen und demnach geheilter Pfote unterwegs ist.

Wir laufen ein wenig die Straße entlang, und ich werde immer unsicherer wegen des kommenden Abzweigs. In einem Ort, der vermutlich La Buelna sein könnte, wird es demnach ernst. Mein Führer bringt mich komplett zur Verzweiflung, irgendwie liest sich heute mal wieder alles wie böhmische Dörfer. Ich muss mir Mühe geben, Satz um Satz einzeln zu lesen (und das trotzdem alle paar Minuten). Eine Bar in La Buelna, wo ein Wegzeiger sein soll. Bar. Bar. Wegzeiger. Bar. Vor allem sehe ich zwei Polizisten, die eher desinteressiert in Leuchtwesten am Weg stehen. Als ich einen kleinen Moment zögere, winken sie schon weitausholend geradeaus. Ich hüpfe quer über die Straße, wedele mit meinem Kärtchen und erkläre, dass ich ja aber nicht den Camino will, sondern den Spezialweg. Ja, ja, da immer geradeaus. Aber ich suche doch die Bar, von der es im Ort abgehen soll. Ja, ja, immer der Straße entlang, da würde es dann nach ein paar hundert Metern rechts abgehen.

Etwas zögerlich trabe ich also der Straße entlang, nicht, ohne nach 50 Metern wieder in meinen Führer zu schauen. Eine Seite vor „Bar. Wegzeiger“ wird der normale Camino beschrieben, der noch ein bisschen der Straße folgt und nach ein paar hundert Metern dann nach rechts abgeht. Die haben mich doch auf den Camino geschickt. Ich laufe entschlossen zurück, wo die Herren schon fast ausfällig werden, warum ich ihnen nicht glaube. Mit ihrem wilden Gestikulieren und Geschrei im Hintergrund laufe ich störrisch zu einer Tafel, versichere mich der Bar daneben und folge „Schild Pendueles“. Nächste Zeile „Bahnlinie überqueren“, alles im Plan. Dann wird auch schon der Blick frei auf atemberaubende Küste. Ich platziere meinen Rucksack an einen Weidezaun und klettere über die lustige Holzkonstruktion, um vom Ende der Weide aus einen Topblick auf das Meer zu haben – mit heute ganz unglaublichen Wellen, die gut 10 Meter hoch gegen die Felsen klatschen und sprühen.

Derweil staut es sich auf dem Weg, den ich gekommen bin, denn ein Bauer treibt seine riesige Kuhherde vom Auto aus den Weg hinunter. Verdächtig in meine Richtung, sodass ich etwas panisch zurücklaufe und mich über das Gatter rette. So allein auf einer Weide an der Steilküste mit 50 Kühen, das brauche ich am Morgen noch nicht. Ich schaffe es vor den ersten Kühen wieder auf den Weg.

Einen Moment später ergibt sich der gleiche Blick auf die Wellen von einem weitaus weniger halsbrecherischen Strand aus. Ich bin verzaubert.

Ein bisschen entzaubert werde ich von einer Weide im Anschluss. Dort steht ein riesiger Stier mit unglaublich viel Muskeln überall. Das gute Kerlchen wirkt auch etwa dreifach so groß wie eine normale Kuh. Er guckt mich unverwandt an und beginnt rhythmisch zu schnauben. Das ist mir sehr, sehr unwohl, zumal der Stier mir nicht so aussieht, als ob ihm das dünne, stromgeladene Zaunbändchen allzusehr imponieren würde. Ich widerstehe dem Wunsch, dieses Bodybuilder-Prachtexemplar fotografisch festzuhalten. Man muss sein Schicksal ja nicht herausfordern.

Ich erreiche Pendueles, wo das leidige Führerschauen schon wieder losgeht. Konzentration, keine Bar und Tafel mehr, sondern hier der Platz mit Brunnen, nach dem es nach rechts Richtung Llanes gehen soll, während der Camino wieder geradeaus weitergeht. Platz mit Brunnen. Rechts. Llanes. Platz. Brunnen. Ich passiere einen Wegzeiger nach Llanes, nein, nein, erst Platz. Brunnen. Dann Llanes. Ich komme mir vor wie bei einer Schnitzeljagd oder Schatzsuche. Ich laufe sehr viel lieber den gelben Pfeilen nach anstatt gegenpfeilig.

Ich treffe ein Brünnchen und mache dort erstmal erschlagen Rast. Hinterher findet sich brav rechts der Pfeil Richtung Llanes, und ich kann mich fürs erste wieder entspannen und den Führer im Rucksack verstauen. Mal wieder überraschend und dadurch erst recht begeisternd findet sich trotz Sonntag ein offener Laden. Meinen Vorsatz vom letzten Camino, nicht mehr so viel Essen mitzuschleppen, habe ich hier elegant komplett auf Eis gelegt. Es gibt nichts Schöneres als einen dicken Beutel voller Fressalien. Ich denke legitimierend an die Dänen aus Gernika mit ihren Plastikkanistern im Rucksack. Ob man nun 13 oder 14 kg schleppt, macht ja schließlich auch nichts mehr aus. Ich schleppe ja sogar hoffentlich im einstelligen Bereich, was macht da ein halbes Kilo mehr oder weniger.

Der kleine Kiosk hat frisches Brot im Angebot. Lecker aussehendes Ciabatta, riesengroß. Ich frage schüchtern nach etwas kleinerem. Der Inhaber verneint bedauernd, springt aber schon an die Fleischtheke auf der Suche nach einem Messer. Ich versichere, dass ich schon das Ganze nehmen kann, ich bin ja hungrig. Im Laden steht noch ein anderer Pilger mit einem sperrigen Rucksack und dem typischen, gewichtsplanenden Pilgerblick. Als ich vor der Tür meine Errungenschaft in meinen großen Rucksack stopfe (und mir auch gleich eine dicke Scheibe in den Mund), fällt mir plötzlich ein, dass es der Pilger mit Laute sein muss, von dem mir der Sachse gestern erzählt hat. Ich überfalle ihn also begeistert an der Türe mit meiner Mutmaßung, ob er der junge Vegetarier mit Laute wäre, der vor zwei Tagen in San Vicente mit dem Sachsen übernachtet hätte. Er trägt es mit erstaunlich viel Fassung (auch in Anbetracht der Tatsache, dass ich das halbe Brot im Mund habe). Er erzählt, dass er auch in Colombres übernachtet hätte, in der Sporthalle, wo ja so ziemlich alle gewesen wären. Zum Beispiel Macho und Co. Das erklärt ihr morgendliches Auftauchen. Ich bin etwas enttäuscht, resigniert in der Freizeitherberge abgestiegen zu sein in der Vorstellung, alle anderen wären weit weg Richtung Llanes. Einzig Helmut hat anscheinend konsequent die Etappen eingehalten, die 34,5km nach San Vicente und die 42,4km nach Llanes. Und das mit 70 Jahren. Wie auch Frans vom Anfang werde ich Helmut wohl nicht mehr sehen, es sind aber die Pilger, vor denen ich den meisten Respekt habe und die mir am meisten am Herzen liegen. Und bei denen ich mich etwas restunwohl fühle. Ich habe in den vergangenen Jahren so viele Armbändel geflochten, dass es für mich selbst etwas wie ein Abschluss geworden ist. Liebgewonnenen Pilgern übergebe ich mein Armbändel voller ausgesprochener und unausgesprochener guten Wünsche. Danach fühle ich mich meist irgendwie frei und abgeschlossen und „sortiert“. Bisher fühle ich mich folglich noch sehr unsortiert und bin zumindest froh, Maike und Chrissie heute nochmal in Llanes zu treffen – und gestern flechtaktiv gewesen zu sein.

Der nette Jungpilger neben mir verabschiedet sich mitten im Gespräch plötzlich unvermittelt, er will ja eigentlich nicht so viel sprechen. Ich bin zwar etwas irritiert, verstehe es aber recht gut, nachdem ich solche lustigen Einfälle ja auch häufig habe.

Entlang des Weges weiden unter anderem Ziegen. Zwei ganz kleine kommen neugierig an den Zaun – was vermutlich die Mutterziege in Panik versetzt. Diese blökt wie wild und möchte den Kleinen zu Hilfe eilen, nimmt aber eine falsche Abzweigung auf der verwinkelten Weide und hat nun plötzlich einen Zaun zwischen sich und dem Nachwuchs. In wilder Verzweiflung versucht sie, mit Gewalt durch den engmaschigen Zaun zu kommen. Ich bin hin und hergerissen, ob ich die Kleinen zu ihr herüberlotsen soll oder sie um den Zaun herum. Letztlich beschließe ich, dass es vermutlich besser ist, wenn ich einfach weitergehe, vielleicht entspannt sich die Lage dann soweit, dass die Mutterziege einfach 10m weiter rechts um den Zaun herumläuft. Ich bin trotzdem erleichtert, als mir nach ein paar Minuten ein Auto mit vermutlich dem Bauern entgegenkommt, der eventuell verhedderte Ziegen befreien kann.

Auf dem sonst menschenleeren Camino laufe ich immer wieder Peter und dem Vegetarier mit Laute über den Weg, mal macht der eine Pause, mal trödelt der andere. Peter ist heute deutlich schneller unterwegs, und bei dem anderen Pilger bin ich einfach etwas verunsichert. Bei ihm scheint es sehr häufig zu schwanken zwischen Gesprächigkeit und Schweigemoment.

Ich schaue schon fast wieder verunsichert in meinen Führer, um die Bufones de Arenillas nicht zu verpassen – Wasserfontänen, die optisch einem Geysir ähnlich mitten aus dem Boden sprühen. Zeitlich müsste ich sie eigentlich schon erreicht haben, es sei denn, ich bin heute mal wieder superlangsam. Peter macht schon seine Mittagspause. Ich kippe zwar auch schon fast um, würde aber gern in Ruhe bei den Fontänen essen.

Ich habe Glück, ein paar 100m später kommen die Schautafeln (und einige Touristen) in Sicht. Momentan ist wirklich Ebbe, es sprüht nichts besonders viel aus dem Premiumkrater. Dafür stehen Macho und seine Truppe ziemlich direkt interessiert im Krater. Es rauscht und faucht recht beeindruckend, und Macho gibt mal wieder alles und kläfft, als wäre da ein Riesenrudel Hunde zu verbellen.

Ich verbummele sicher eine Stunde, habe dann aber irgendwann schon so einen Blick für die Wellen, dass ich ahne, wann es ein bisschen sprühen könnte.

Kaum habe ich mich wieder aufgerafft, in der stattlichen Mittagshitze weiterzulaufen, da komme ich schon an eine Kreuzung, die ungewöhnlicherweise nicht ausgeschildert ist. Die Fahrstraße biegt scharf nach links ab, nach rechts an der Küste entlang führt ein gut ausgebauter Trampelpfad. Meine lustige Karte hat zwar einige Schlenker im Angebot, aber mal nach rechts und mal nach links, was weiß ich, wo ich mich gerade befinde. Ich grübele minutenlang herum, was denn logischer ist. Im Zweifelsfall geht es immer geradeaus. Hier geht ja einfach nichts geradeaus. Also der größeren Straße folgen. Aber wenn es eine Fahrstraße ist? Ich entscheide mich, dass die Straße nach links vielleicht nur der Tourizubringer ist und ich weiter an der Küste entlanglaufe. Mir kommt eine Gruppe Radler entgegen, schön, dann muss es da ja irgendwo hingehen. Pünktlich zum letzten Wandertag verheddere ich mich in einem Kuhgatter und reiße mir ein sattes Loch in meinen Allzweckfleecepulli.

Der Weg geht sehr hübsch auf weichem Grasboden durch Ginster und Eukalyptus. So ganz sicher bin ich mir aber immer noch nicht, ob ich richtig bin. Irgendwann kommt vor mir ein Meerarm in Sicht. Durch das verhältnismäßig enge Flussbett donnern spritzend die meterhohen Wellen. Mein immer schmaler werdender Trampelpfad formt sich zu wenigen Zentimetern, die steil hinunter zum Wasser führen. Ich kriege einen halben Wutanfall. Da hangele ich mich jetzt sicher nicht die Felswände entlang, ob das so gedacht ist oder nicht. Vielleicht führt er im Trockenen vorbei, vielleicht ist irgendwann Ende, vielleicht schnappt einen irgendwann eine hohe Welle, vielleicht rutscht man aber auch einfach so ab. Ich bin frustriert, rege mich über den Umweg auf, über meinen zerrissenen Fleecepulli, über die fehlende Ausschilderung, darüber, dass ich trotz langem Nachdenken den falschen Weg gewählt habe. Dass ich heute den halben Tag in meinem Führer hänge, daraus aber auch nicht schlauer werde. Egal, ob ich in den Text oder auf die Karte schaue, vor meinen Augen flackern nur lauter Alternativen, die mich ganz wirr machen.

Ich laufe die Fahrstraße, auch nicht so wirklich sicher, ob die nun irgendwohin führt oder ob der nette kleine Felsenweg gedacht gewesen wäre (ich befinde mich hier ja nicht auf dem eigentlichen Camino, sondern auf dem E9). Irgendwann erreiche ich ein kleines Brückchen über den mittlerweile höhnisch beruhigten Fluss sowie später den Ort Andrín. Ich bin also richtig. Mein Wasser ist ziemlich zu Ende, es ist heiß, aber so auf die Schnelle sehe ich keinen Brunnen und habe auch nicht mehr so viel Lust auf Suchen. Ich bereue es schon fast, als ich mich an den fröhlichen Aufstieg zur Passhöhe mache. Umso beeindruckender ist der Ausblick – und glücklicherweise ist auch Llanes nicht mehr weit. Wasser in greifbarer Nähe, ebenso das heutige Etappenziel. Die heutigen 25km, die ich eigentlich als gemütliches Ausspannen im Kopf hatte, sind nochmal eine echte Herausforderung.

Die letzten Kilometer nach Llanes ziehen sich nochmal so richtig. Ich nehme natürlich trotzdem noch jede Extravariante mit und laufe recht endlos auf einem Bergrücken entlang. Ich bin schon halb an Llanes vorbei und verliere fast schon die Hoffnung, dass es irgendwann wieder runter geht.

In Llanes angekommen grinst mir schon der Sachse entgegen, der mich irgendwo überholt haben muss. Ich bin heilfroh, angekommen zu sein, er dagegen will noch einen Ort weiter. Die nächste Etappe ist mit 34km auch schon wieder lang, was mich ja allerdings nicht mehr zu tangieren braucht. In Llanes gibt es zwei Herbergen, ich weiß noch nicht so recht, in welche ich gehen soll. Möglichst in Busbahnhofnähe; gleichzeitig versuche ich zu eruieren, welche Maike und Chrissie wohl wählen könnten.

Recht am Ortseingang treffe ich auf den verlassen daliegenden Busbahnhof. Um meinen kleinen Heimreise-Verfolgungswahn zu beruhigen, tappe ich an den (ebenfalls verlassenen) Schalter, wo ich etwa 5 Minuten warte, bis eine Mitarbeiterin peinlich berührt angestürmt kommt. Sie hat derweil draußen Kaffee getrunken. Ich zeige ihr meinen Ausdruck, frage, ob das so recht ist und der Bus auch wirklich fährt. Sie ist sehr nett, tut so, als ob sie alles nochmal gewissenhaft kontrollieren würde und gibt mir ein strahlendes Okay. Ich bin erleichtert.

Llanes selber ist erschlagend. Ich verliere den Camino und bin mitten in der (sonntäglich völlig überfüllten) Innenstadt. Ich entschließe mich zu einem feierlichen Abschiedseis und bin einmal mehr erstaunt, dass sich die Auswahl an Eissorten auf Zitrone und Erdbeer zusammenstreicht, wenn man sowohl Kaffee als auch Schokolade vermeiden will. Ich bestelle also eine moderat spannende Kugel Erdbeereis. Die etwas füllige Bedienung versinkt schwer atmend in der Tiefe einer Kühltruhe, nicht, ohne zwischendurch wieder aufzutauchen und sich mit dem Handrücken die Nase abzuwischen. Mein Eistütchen sieht schon völlig erschlagen von Eiskugeln aus, sie taucht aber nochmal ab und pflastert gewissenhaft 4 weitere Kugeln drumrum. So eine Kugel Eis habe ich noch nie gesehen, es sind mindestens 8 Kugeln, mir fällt schier der Arm ab, und ich habe richtig Schleckstress.

Ich bin unschlüssig, ob ich mich hier und jetzt auf Sightseeingtour machen soll oder erst die Herberge suchen. Ich irre absolut ziellos durch die Straßen in der Hoffnung auf irgendeine erleuchtende Ausschilderung. Meine geplante Herberge soll in einem alten Bahnhof sein, aber den kennt niemand. In einem Türmchen der Stadtmauer hat eine Information noch geöffnet, und ein sehr netter Herr gibt mir einen Stadtplan und eine Wegbeschreibung. Plötzlich bin ich wieder auf Kurs und finde sogar die gelben Pfeile wieder – und vor der Herberge einen Park mit Brunnen.

Die Herberge sieht moderat einladend aus. Irgendwie wieder nicht direkt nach kleiner Pilgerherberge. Ich frage den Mann an der Rezeption, ob hier auch Pilger wären, was er begeistert bejaht. Ich bekomme einen Schlüssel für mein Zimmer und durchquere eine riesige ehemalige Wartehalle, die nun mit dunklen Tischen einen Essraum darstellt. Generell ist mir alles ein bisschen zu groß, zu dunkel und zu verraucht, als dass ich mich wohlfühlen würde.

Mein Zimmer ist soweit noch leer. Moderat begeistert stelle ich fest, dass ich kurz vor der Herberge noch in Hundedreck getreten sein muss. Ein Königreich für eine Bürste. Ich putze mit feuchtem Klopapier daran herum, aber dieses löst sich sofort auf. Ein Meer aus Hundekot-Papierröllchen, halleluja.

Mit der Herberge und den Pilgern werde ich nicht so recht warm, ich kenne keinen von ihnen. Jeder verschwindet in seinem hellhörigen Zimmer, eigentlich will ich gar nicht so versteckt mithören. Mittlerweile ist es fast 19 Uhr, von Maike und Chrissie keine Spur. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch kommen, vermutlich sind sie in der anderen Herberge am Ortseingang untergekommen. Ich packe meine beiden Bändel ein und mache nochmal einen Ausflug dorthin. Die Herberge gehört zu einem eleganten Hotel, sodass ich eine gepflegte ältere Frau aus ihrem Rezeptions-Sessel schrecken muss. Als ich nach den beiden frage, guckt sie ganz entgeistert, die wären nicht hier. Vermutlich ist gar kein Pilger hier.

Ich bin niedergeschlagen. Alle bekannten Gesichter sind einen Ort weiter gegangen, und Chrissie und Maike haben es vermutlich einfach nicht bis Llanes geschafft. Falls sie gestern wie geplant in Serdio übernachtet haben, wären es heute 35km gewesen. Eigentlich war es utopisch, so sicher zu sein, dass wir uns in Llanes wiedersehen. Es fühlt sich doppelt „incomplete“ an. Dass ich heute hier nicht in einer wunderbaren Herberge mit allen lieben Pilgern versammelt bin, ist verzeihlich und nicht weiter schlimm. Dass ich mich nun aber rein gar nicht von den beiden verabschieden konnte, ist schade.

Derweil verabschiede ich mich von meinem treuen Begleiter, meinem Wanderstock. Ich suche ihm mühevoll ein schönes Plätzchen am Camino, in der Hoffnung, dass ihn vielleicht jemand weiter bis Santiago mitnimmt.

Auf den letzten Tag habe ich meine Kulturpanik und habe das dringende Gefühl, diesmal doch noch etwas von der Stadt anschauen zu müssen. Ich wandere die beeindruckende Hafenmauer entlang, an der die meterhohen, bemalten Cubos de la Memoria liegen. Ohne das wilde Geschnatter der vielen Touristen in den Bars und Restaurants ist es hier draußen am Meer völlig ruhig. Ein feiner Dunstschleier verhüllt Llanes und das „Danach“. Den Abend ausklingen lasse ich im Parque de San Pedro, einer Parkanlage mit Blick auf die Küste, die Möwen und den Sonnenuntergang.

Ich bin mit einer unheimlichen Wehmut erfüllt, ich habe das Meer und die Küste, die grünen Wiesen und Nebel so liebgewonnen.

Vielleicht ist es ganz gut, dass wenigstens die Herberge meine Wehmut nicht noch weiter nährt. Alle paar Stunden fährt ein Zug in den Bahnhof ein, was die ganze Herberge wackeln lässt. Grelle Neonbeleuchtung und ein markerschütterndes Tuten bei der Abfahrt sind das Sahnehäubchen an Wohlfühlstimmung. In meinem Zimmer bin ich immer noch allein, was praktisch ist; so kann ich morgen in aller Ruhe für meinen frühen Abgang packen. Mein Bus geht um 7 Uhr.

Vielleicht hat die wunderschöne Herberge doch noch etwas Gefängnis-Restschwingungen. Jedenfalls träume ich sehr unruhig. Ich träume die halbe Nacht verschiedene Varianten, meinen Rückreisezug zu verpassen (glücklicherweise muss ich gar keinen Zug nehmen). Einmal sehe ich jemanden freundlich auf mein Bett zukommen, der sich zu mir niederbeugt und mir dann den Hals zudrückt. Ich bin morgens etwas gerädert.

Heute verabschiedet sich die Koreanerin entschlossen von mir. Eigentlich ist sie ein 20km- Läufer, ist aber seit Castro Urdiales mit mir mitgelaufen. Jetzt ist sie wirklich kaputt und will es langsamer angehen. Wir tauschen Emailadressen und verabreden uns für den nächsten Monat. Sie verbringt noch 2 Monate in Europa, unter anderem in der Schweiz. Zum Abschied gebe ich ihr ein Bändel. Ich bin wirklich ziemlich knüpffaul diesen Camino und arbeite seit fast einer Woche an einem Bändel für Chrissie und Maike.

Ich frühstücke in der Rezeption – und stelle fest, dass es dort sogar einen Kühlschrank und eine Mikrowelle gegeben hätte. So gönne ich mir dann wenigstens noch einen schönen grünen Tee. Zu meiner Freude verfüge ich auch wieder über eine funktionierende Uhr. Normalerweise habe ich gar keine Uhr, für den Camino greife ich immer auf eine billige Werbegeschenk-Uhr zurück. Diese hat es mir wohl etwas übel genommen, dass ich sie über Nacht in meinem feuchten Waschbeutel aufbewahrt habe. Nach 4 Tagen bei-jeder-Gelegenheit-in-Einzelteilen-in-die-Sonne-Legen (und nachdem ich fast die Hoffnung aufgegeben habe), läuft sie plötzlich wieder.

In der frühen Morgensonne laufe ich aus Comillas hinaus. Ich habe ein leicht schlechtes Gewissen, mal wieder nur den Strand und den Supermarkt angeschaut zu haben, während die Koreanerin heute extra weniger läuft, um noch diverse architektonische Gaudí-Wunderwerke bestaunen zu können. Nachdem sie gestern morgen schon einen Umweg zur Cueva de Altamira mit weltberühmten Höhlenmalereien gemacht hat.

Ich komme an eine lange Brücke über die Ría de la Rabia, was mich an Tollwut denken lässt. In der Ferne kommt mir ein Mann entgegen. Er ist noch sehr weit weg, und ich schaue nur einen kurzen Moment, aber irgendwas erscheint mir ungewöhnlich. Seine eine Gesichtshälfte wird von der aufgehenden Sonne beschienen und müsste irgendwie hell sein, was sie aber nicht ist. Ich denke intuitiv an eine Gesichtsentstellung und schaue diskret wo anders hin. Erst, als wir uns begegnen, schaue ich kurz auf. Er lächelt mich an und wünscht mir einen schönen Tag, was ich automatisch erwidere. Gleichzeitig habe ich aber auch den reinsten Kurzschluss im Hirn. Die ungewohnt dunkle Stelle, die mich von weitem irritiert hat, stellt sich als komplett blutüberströmt heraus. Über dem Auge ist es schwarz verkrustet, aber der ganze Hals ist frisch blutbedeckt und die Hände tropfen von frischem Blut. Alles passiert so schnell, für eine Millisekunde will ich (sehr intelligent) „todo bien?!“ fragen, meine Beine laufen aber einfach im gleichen Rhythmus weiter, ich sehe nur immer noch die blutigen Hände und denke „fass mich nicht an, fass mich nicht an“. Vielleicht habe ich irgendeinen Horrorfilm vor Augen, ich habe Riesenpanik, dass diese Hände nach mir greifen. Ich drehe mich um, der Mann trottet genauso unbeteiligt die Brücke entlang wie vorher. Ich frage mich, ob ich mir das Ganze eingebildet habe, aber auf dem Weg vor mir sind alle paar Meter größere oder kleinere Blutstropfen. Am Ende der Brücke in sicherer Entfernung bleibe ich stehen und versuche, irgendwie wieder normal zu denken. Es braucht ein paar Minuten, bis ich überhaupt einen Gedanken fassen kann. Ich kann mich langsam, aber sicher davon lösen, dass ein heimtückisch lächelnder Zombie nach mir greifen will, es gruselt mich aber immer noch über alle Maßen. Ich kann mir keinen Reim drauf machen, warum man blutüberströmt herumläuft und dann freundlich lächelnd jemanden begrüßt, anstatt um Hilfe zu bitten. Vielleicht ist der Mann noch unter Schock, wobei es mich da gleich wieder gruselt. Falls ihm dieses Blut überall noch gar nicht bewusst ist, möchte ich nicht diejenige sein, die ihn darauf bringt. Ich bin etwas beruhigt, dass er auf eine Siedlung zugelaufen ist.

Etwas später komme auch ich wieder an eine Siedlung. Ein Mann will gerade in sein Auto einsteigen, und ich bin schon nahe dran, ihn anzusprechen und zu bitten, nach diesem Mann zu sehen oder einen Notruf zu tätigen. Da sehe ich auf der Rückbank zwei Kinder im Kindergartenalter. Vielleicht doch keine so gute Idee.

Ich habe gut 2 Stunden lauter wirre Gedanken und Überlegungen und Theorien im Kopf, und auch erst nach etwa 2 Stunden bin ich zu ansatzweise vernünftigen Gedanken fähig, wie z.B., dass ich einfach direkt danach per Handy die Polizei hätte anrufen können. Ich hoffe, dass jemand anderes eine bessere Reaktionszeit hatte.

San Vicente de la Barquera kommt in Sicht, ein Ort, auf den ich mich so gefreut hatte. Nach meiner Nacht und der morgendlichen Begegnung bin ich aber irgendwie zu sehr „shaken“. Aus der erwarteten Postkartenidylle wird eh nichts. Vor dem Städtchen liegen zwar haufenweise nette Fischerbötchen, allerdings nicht im Meer, wie es sich gehört, sondern auf trockenem Sand, was mich nun schon wieder an Bilder eines Tsunamis denken lässt. Ich erinnere mich, dass Maike gestern Abend ja schon von Ebbe erzählt hat- so sieht das hier auch aus. Allerdings befremdlich, dass da ein Hafen komplett trockenläuft.

Hinter San Vicente geht es wieder in ländliches Hinterland, welches mich Stück für Stück wieder in die Normalität zurückholt.

Irgendwie bin ich erschöpft. Ich mache eine erste lange Pause an einem Spielplatz in La Acebosa und eine Weile später gleich am nächsten Spielplatz. Mir tun die Füße und Beine weh, meine 40km-Tour wirkt nachhaltig. Gegen Mittag erreiche ich Serdio, wo Maike und Chrissie heute stoppen wollen. Der Ort ist lustig. Ich steuere gerade einen Brunnen an, um meine Flaschen aufzufüllen, als sich just in diesem Moment ein Hund direkt davor intensiv verewigt. Ein Pferd läuft stoisch über den Platz – gefolgt von seinem nicht ganz so stoischen Besitzer, der trick- und wortreich versucht, es wieder auf seine Koppel zu lotsen. Ich mache meine für heute letzte Essenspause auf einem Bänkchen neben einer Bar, in der sich mit großem Hallo das ganze Dorf versammelt.

Ich bin nicht mehr so taufrisch, und der Weg zieht sich recht endlos durch weitere Orte und unterschiedliche Vegetationen. Mal vorbei an idyllischer Flusslandschaft geht es unter anderem auch durch einen wilden Eucalyptuswald. Der Trampelpfad ist verschwindend schmal im Vergleich zu den endlos hohen Bäumen, und das Erspähen der gelben Pfeile erinnert wirklich an eine Schnitzeljagd.

Nachdem ich seit meinem rückreisebetreffenden Alptraum heute Nacht ein ungutes Gefühl habe, steuere ich in Pesués spontan die Bahnstation an. Grundsätzlich würde es mich beruhigen, wenn zumindest die Möglichkeit bestünde, mit einem Zug nach Bilbao zu kommen – nur für den Fall, dass ich meinen einzig möglichen Bus verpassen sollte. Aus den Fahrplänen werde ich nicht so recht schlau, demnach fährt zumindest sehr wenig. Ich drücke interessiert einen „Info“- Knopf am Ticketautomaten – und flüchte wenig heldenhaft, als es zu tuten beginnt und offenbar die Verbindung zu einem Bahnbeamten aufgebaut wird.

Ich bin ziemlich fix und alle, als ich endlich in Unquera bin. Von dort geht es dann noch den Berg hoch nach Colombres. Auf dem Weg treffe ich auf eine nette freilaufende Ziegenherde und eine weniger anheimelnde Herde spanischer Jugendlicher, die laut grölend zu einem Erlebnispark getrieben wird und meine einsame Pilgeratmosphäre sehr merkwürdig durcheinander bringt.

In Colombres soll es eine Sporthalle mit Platz für Isomatten geben, die andere Variante ist eine Freizeitherberge, in der sehr wahrscheinlich auch die 70 spanischen Jugendlichen untergekommen sind. Beides reizt mich sehr wenig. Ich stehe unschlüssig vor der Freizeitherberge, die im Moment sehr verlassen daliegt. Irgendwo entdecke ich dann einen Pilger, deutschsprachig, der bisher noch allein dort ist. Ich frage nach der Sporthalle, ob er die schon gesehen hätte bzw. wohin die anderen Pilger gegangen wären. Er hat in San Vicente übernachtet, unter anderem zusammen mit Macho, Herrchen und der Kanadierin sowie mit Helmut. Er sagt, die wären heute alle bis Llanes weitergegangen, die 42km. Ich bin erst recht unschlüssig, Freizeitherberge und dann nicht mal mit ein paar anderen Pilgern. Aber allein in der Sporthalle bringt es dann ja auch nicht. So checke ich schweren Herzens hier ein.

Für Pilger ist ein kleines Zimmerchen abseits vom Trubel reserviert. Es erinnert an ein Kellerzimmer, ist auch entsprechend dunkel und wirkt feucht. Ich fühle mich nicht recht wohl. Die Dusche ist eiskalt und schießt mit einer derartigen Wucht, dass es den Duschvorhang wegweht. Zwar raucht der andere Pilger draußen seine Pfeife, sodass es nichts schadet, dass ich etwas frei herumstehe, aber ich flute dabei auch geschickt das ganze Bad. Mir bleibt schier das Herz stehen, während ich mich immer wieder für ein paar Sekunden in den Eisstrahl stelle (und damit heute auch noch meine Haare waschen muss). Mein Pilgerkollege, der nach mir duscht, meint, man müsse eben einfach immer etwas das Wasser laufen lassen, nach 5 Minuten hätte er prima heiss geduscht.

Gegen 5 kommt eine Dame von der Herberge zum Kassieren. Entgegen der Information in meinem Führer gäbe es natürlich einen Supermarkt – und natürlich hätte der auch Samstags bis 8 offen. Ich gehe begeistert einkaufen. Es ist wieder einer der Läden Marke „auf kleinstem Raum von allem etwas“. Zur Hebung meiner Laune kaufe ich heute mal wieder ziemlich viel ein.

Während ich vor der Herberge picknicke und mich mein sächsischer Mitpilger recht hartnäckig beschallt, kommen doch noch das ältere spanische Ehepaar und Peter. Diesmal allerdings ohne Heike. Wie schon des öfteren gehen sie nach kleineren Unstimmigkeiten getrennte Wege. Grundsätzlich finde ich das vernünftig und bewundernswert; ich persönlich finde die Vorstellung aber befremdlich, sich nicht wenigstens zum Abend hin wieder ausgesöhnt zu haben.

Ich bin froh, dass wenigstens Peter da ist, allein seine Anwesenheit verströmt einen Hauch von Heimat und Verwurzelung. So bin ich heute sogar schon richtiggehend dankbar für das lautstarke Trockenschlagen seiner Wäsche. Und dankbar, dass Peter um 8 Uhr mit dem Sachsen zum Essen in der Herberge geht und dessen Mitteilungsdrang auf sich nimmt. Ich bin heute irgendwie emotional erschöpft und mit so viel Input überfordert, sodass ich mich recht bald aus dem anschließenden Gespräch ausklinke und schlafen gehe.

Meine Morgen laufen mittlerweile eigentlich schon immer gleich ab. Ich verschlafe selig süss, bis die ersten gegen 8 zu packen anfangen. Ich packe panisch alles zusammen und bin 5 Minuten später wieder unterwegs. Heute bleibe ich einen kleinen Tick länger in der Herberge, heute steht ja erst recht nur eine kurze Etappe an (wobei auch sonst kein Grund zur Eile wäre). Für die 3 langen Etappen am Schluss hatte ich mir ohnehin 4 Tage gegönnt, und nach meinen gestrigen 40 km habe ich nun sogar für 2 Etappen 3 Tage. Entspannter Luxus.

Während ich Magdalenas in mich hineinfuttere, ist Machos Herrchen deutlich weniger entspannt. Macho hinkt seit gestern, nachdem seine Pfote etwas verletzt ist. Das kümmert zumindest ihn zwar nicht weiter, er springt herum wie eh und je und will los, aber sein Herrchen verordnet heute einen Bustag bis San Vincente. Alle Hundehalter, die ich bisher getroffen habe, haben erzählt, dass man schon langsamer laufen muss und viel Rücksicht nehmen und die Hunde viel Schlaf brauchen oder was auch immer. Macho dagegen wäre problemlos, würde liebend gern jeden Tag aufs Neue 30 km laufen; ich hoffe, dass sich diese optimistische Einstellung nun nicht doch rächt.

Heute bin ich beim Verlassen von Santillana sehr wehmütig. Zum einen tut es mir leid, diesen (wenn auch etwas kitschig touristischen) Ort nicht näher auf mich einwirken gelassen zu haben. Zum anderen berührt mich einmal mehr die Schönheit der grünen Weiden im Sonnenaufgang. Mein Camino neigt sich dem Ende zu, und ich werde das alles sehr vermissen.

Ich kämpfe mich etwas weglos durch ein paar baustellenbedingte Umleitungen. Am Horizont hinter mir mache ich schon Helmuts charakteristischen Gang aus, was mich irgendwie stresst.

Ich hänge die Hälfte der Zeit wieder begeistert in der Vegetation, die vielen Blümchen reißen mich einfach vom Hocker. Auch eine Kirche in der Ferne ist ein beeindruckender Augenschmaus – völlig allein auf einem Hügel gelegen.

Dort mache ich erst mal wieder ein Genusspäuschen. Helmut holt mich erwartungsgemäß ein und wechselt ein paar Worte. Ich versemmle es total und bin unnahbar par excellence. Er verabschiedet sich nach ein paar Momenten, dass er heute ja noch viel vorhat und bis San Vicente will. Wir verabschieden uns nicht grundlegend, obwohl er sich vermutlich denken kann, dass ich heute nicht so weit laufe. Ich fühle mich einfach reichlich mies.

Ein paar Minuten später kommt schief grinsend der Deutsche von gestern vorbeigehatscht. Richtig gut sieht sein Tag 2 nicht gerade aus. Er stochert tapfer mit zwei Trekkingstöcken, trotzdem sieht sein Gang ziemlich hölzern und unstimmig aus. Vermutlich hat er Schmerzen.

Ich bin froh, als beide vorbei sind und ich soweit wieder meine Ruhe habe und nochmal zum vorgezogenen Abschied alles so richtig auf mich einwirken lassen kann. Multitaskingfähig bin ich leider überhaupt nicht. Ich muss ja sogar schon fotografieren und schauen trennen. Und schauen und fühlen.

Wieder sieht man in der Ferne die schneebedeckten Berggipfel der Picos wie kleine Wölkchen am Horizont, ich freue mich schon sehr auf San Vincente de la Barquera morgen. Dort erwartet mich vermutlich ein absolutes Postkartenmotiv mit Meer, toller Kirche und den Schneebergen.

Vor der beeindruckenden Iglesia de San Martín de Tours mache ich schon mein erstes Mittagspäuschen. Dank des gestrigen Supermarktes mal wieder mit Pulpo a la Marinera, meinem liebsten Caminosnack.

Vorbei an Cóbreces mit einer für meinen Geschmack fürchterlich roten Kirche bin ich schon wieder hin- und hergerissen mit meiner heutigen geplanten Kurzetappe. San Vincente mit dem Meer reizt mich ungemein, es ist fast schade, statt dessen bereits im Inland zu stoppen. Glücklicherweise melden sich meine Füße dann doch etwas zu Wort, sodass es mit gutem Gewissen nach Comillas aussieht – welches zu meiner Überraschung sogar auch am Meer liegt. Ich könnte wirklich etwas häufiger in meinen Führer schauen.

Comillas ist wie Santillana ein perfekter Touristenort, überall hat es hübsche Wegweiser, die zu verschieden nummerierten Sehenswürdigkeiten weisen- auf Kosten der gelben Pfeile. Ich bin wohl nicht mehr so wirklich auf dem Weg, finde die Herberge dann durch Zufall aber doch. Die Herberge soll in einem ehemaligen Gefängnis sein, was mich mit gemischten Gefühlen erfüllt. Nachdem ich ja ohnehin überempfänglich bin für Schwingungen, fühlt es sich vielleicht etwas seltsam an, in einer Gefängniszelle zu schlafen.

Die Herberge sieht aber auf den ersten Blick absolut vertrauenserweckend aus, öffnet allerdings erst um 16.00 in knapp einer Stunde. Aus Rücksicht auf meine irgendwie reißenden Sohlen widerstehe ich dem Drang, zwischendurch nochmal schnell an den Strand zu laufen und sitze brav im grünen Gras, bis geöffnet wird.

Die Mitarbeiterin des Tourismusbüros ist zwar keine Hospitalera im eigentlichen Sinne, versprüht aber trotzdem eine herzliche Freundlichkeit. Zu meinen zaghaften Gefängnisbedenken erzählt sie lachend, dass es zwar mal ein Gefängnis war, aber von Grund auf neu aufgebaut wurde. Mit einem Gefängnis hat die Herberge wirklich nichts mehr zu tun. Ich bin absolut begeistert von der kleinen, schicken Komposition. In einer Hälfte sind die Rezeption sowie die Waschräume untergebracht (mit vielen Grüßen an Santander mit separat je zwei Duschen, zwei WCs und zwei Waschbecken je Geschlecht), im kleinen Innenhof zwischendrin hängen Wäscheleinen. Im anderen Gebäude mit hübschem Steindekor empfängt ein Esstisch und eine Tür zu einem kleinen, klassischen Schlafsaal, während eine Treppe eine Etage höher führt, wo sich unter der Dachschräge noch etwa 15 Einzelbetten befinden. Ein echtes Paradies. Ich habe vor meinem Bett 2 x 2 Meter dunkles Parkett nur für mich, auf dem ich mein Chaos ausbreiten kann.

Anstatt zu duschen, mache ich mich heute erst noch auf zum Meer, wo ich nun wirklich mal genussvoll ohne anschließendes Laufpensum meine Füße erfrischen will. Der Strand ist wunderschön, fast menschenleer- und das Meer ist reichlich wild. Wie so oft bin ich absolut hin und weg von dem Krachen der Wellen. Ich stehe wie ein hypnotisiertes Kaninchen da und kann immer nur denken, wie unendlich schön das hier ist.

50 Fotos und 5 versuchte Videos später sehe ich ein, dass sich die Wellen und die Stimmung nicht digital bannen lassen wollen. Vielleicht sind ja auch gar nicht die Wellen so besonders, sondern dieses berühmte „Mehr“, welches sich nur fühlen lässt.

Ich laufe bestimmt eine Stunde den kleinen Strand auf und ab, um mich dann noch in den warmen Sand zu setzen.

Auch wieder recht wehmütig nehme ich Abschied vom Sand und den Wellen. Auf dem Rückweg findet sich noch ein schöner Supermarkt und ein über dem Friedhof mit Meerblick wachender Engel, und zurück in der Herberge freue ich mich über die Koreanerin, den hinkenden Deutschen und Maike und Chrissie. Sie haben gestern einen kleinen Ort vor Santillana übernachtet, und irgendwie bin ich froh, sie wiederzusehen. Chrissie strahlt begeistert, sie verbringt die Tage damit, Spanisch von Maike zu lernen. Leider trennen sich ihre Wege bald, Maike will an der Küste weiter, Chrissie über den Camino Primitivo nach Santiago. Morgen wollen sie eine kürzere Etappe machen, übermorgen treffen wir uns dann aber wieder in Llanes.

Ich dusche meinen Rest Meer von den Füßen und bin begeistert von den hübschen Sanitäranlagen – aktuell einem Duschvorhang in zartem Babyblau. Maike weiß sogar von einer Wäscheschleuder zu berichten – allerdings im Männerwaschbereich. Nachdem es so viel Männer ja noch nicht hat, tropfe ich ungerührt mit meinen Artikeln nach nebenan. Während ich die (auch ohne Unwucht) recht ohrenbetäubende Zentrifuge betätige, kommen dann doch zwei Herren duschfertig dazu und wirken etwas entgeistert, während ich die scheppernde Schleuder im Zaum zu halten versuche. Ich bin auch etwas durcheinander und sage zum Abschied auf Deutsch „Tschuldigung“.

Oben schnarcht der Deutsche erschlagen tief und fest am helligten Nachmittag. Als er dann doch wach wird, kommen wir auf seine Füße zu sprechen. Er zeigt mir eine Blase, die ihm einfach nur wehtut, die mich aber vermutlich schon panisch in eine Notaufnahme getrieben hätte bzw. an das Ende meines Caminos denken lassen würde. Blasenpflaster kennt er nicht, er hat die Hautfetzen einfach mit Tape überklebt. Ich tröpfele Betadine drauf und klebe ein Blasenpflaster drüber. So richtig zuversichtlich bin ich trotzdem nicht.

Maike und Chrissie gehen ans Meer. Eigentlich wollte ich nochmal mit, irgendwie reizt mich der abendliche kühle Wind dann aber doch nicht. Zudem bin ich zwar immer noch von Blasen oder größeren Gebrechen verschont, allerdings haben die 40km von gestern dann doch Spuren hinterlassen. Meine Beine ziehen unterschwellig, und beim Aufstehen oder in die Knie gehen fühle ich mich um 50 Jahre gealtert. In Anbetracht der beiden noch anstehenden, kurzen Etappen zum Auslaufen versetzt das nicht mal mehr mich Hypochonder in Aufregung; allerdings muss ich feststellen, dass ich wohl nicht für solche Etappen gemacht wäre, würde ich von hier noch bis Santiago wollen. Die 40km von gestern fallen unter die Rubrik „ehrgeizig übernommen“.

Und werden dann doch ziemlich relativiert durch einen Spanier, der kurz vor Sonnenuntergang die Treppe heraufgepoltert kommt. Er kommt heute von Santander, über 60km. Meine erste Empfindung von Bewunderung und Respekt wird sehr schnell abgelöst von einem gewissen Unverständnis. Der Mann ist nicht einfach sportlich oder zäh, sondern jammert gut eine Stunde lautstark vor sich hin. Unter lauten Schreien schleppt er sich die Treppe hinunter, damit auch jeder merkt, was er geleistet hat. Er cremt und sprüht dabei die ganze Zeit, als würde alles auseinanderfallen. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis, und er geht mir auch ziemlich auf den Geist.

Meine beiden Damen kommen recht verfroren zurück. Sie fanden den Strand auch toll, auch wenn Maike meint, dass sie ja wegen der Ebbe ein ganz schönes Stück gehen mussten. Ich bin überrascht, ich habe noch nie daran gedacht, dass es hier Ebbe und Flut geben könnte.

Unter unseren Dachluken mit Blick auf den Himmel (und mit Ohrstöpseln gegen den sein Märtyrium feiernden Spanier) geht ein beeindruckender Tag zu Ende.


Am Morgen wuselt es schon hektisch in der Herberge. Vor dem einzigen Frauenbadezimmer ist schon eine riesen Schlange. Ich esse schnell meinen Joghurt und ergreife die Flucht. So ein ganz kleines bisschen zügig unterwegs sein möchte ich heute auf Grund meiner geplanten Herberge in Polanco, die nur 6 Betten hat. Allerdings wird der Großteil vermutlich eh bis Santillana durchgehen.

Während ich mit der aufgehenden Sonne aus Santander hinauslaufe, bereue ich, nicht doch für das Herbergsbad angestanden zu haben. Die erste halbe Stunde hetze ich nur mit panischem Blick nach einer Austrittsmöglichkeit durch die Gegend und werde erst wieder zu einem normalen Menschen, als sich in einem Industriegebiet eine Tankstelle mit WC finden lässt.

Durch einige Vororte geht es eigentlich immer an der kleinen Bahnlinie entlang. Wie auch schon vor Bilbao finde ich das etwas befremdlich. Prompt laufen auch zwei Pilger vor mir zielstrebig auf einen Bahnsteig zu. Mir ist es irgendwie lieber, durch völlige Pampa zu laufen, ohne Abkürzmöglichkeit.

Bei meinem ersten kleinen Päuschen fällt mein Blick auf meine Wäsche, die ich zum Nachtrocknen außen am Rucksack befestigt habe. Darauf prangt ein satter, dicker Taubenklecks. Hatte ich doch gleich geahnt, dass es diese Wäscheleine im Innenhof der Herberge in sich haben könnte.

Heute läuft es sich ziemlich gut, es ist leicht bewölkt und angenehm kühl. Die heutigen 6 Stunden sind ja auch ein überschaubares Pensum.

Ich hänge zur Hälfte fotografierend in irgendwelchen Vorgärten, halb in meinem Führer, um meine Abzweigung heute nicht zu verpassen. Ich passiere die Haltestellen von Mompía und Bóo de Piélagos, um dann die Abkürzung über die Eisenbahnbrücke in Angriff zu nehmen. Fast schon ein Highlight, ich freue mich drauf, zwischen ratternden Zügen einen Sprint hinzulegen. Einen vom Padre als gut abgesegneten, wohlgemerkt.

Während ich mich abenteuerlustig Richtung Bahnstrecke entlangschlage, bin ich fast ein wenig enttäuscht, als das Brücklein in Sicht kommt. Abgesehen davon, dass vor mir gerade ein Zug durchgetuckert ist und der nächste erst in 20 Minuten ansteht, ist der Weg für Fußgänger wirklich mehr als breit ausgebaut. Vermutlich hätte ich mir absolut nichts dabei gedacht, wenn ich darübergelaufen wäre und derweil ein Zug die Brücke mitbenutzt hätte. Also kein atemloser Sprint. Einen kleinen atemlosen Moment bekomme ich dann doch, als mir direkt nach der Brücke ein paar Bahnarbeiter entgegenlaufen. Ich bin ja recht offensichtlich die verbotene Brücke entlanggelaufen. Aber sie grüßen freundlich. Während ich mich durch das legendäre weiße Gras wurstele, kündigt ein minutenlanges Warnhupen dann doch noch einen Bummelzug an. Sehr rücksichtsvoll und pilgerfreundlich.

Nach diesem Abenteuer des Tages mache ich nach dem Bahnhof von Mogro erstmal eine ausgiebige Pause am Santuario de la Virgen del Monte, einer hübschen Kirche mit noch viel liebevollerem Park mit Bänkchen und Brunnen. Ich trabe anschließend frohgemut weiter, immer geradeaus, auch wenn ich etwas verwundert bin, dass an den vielen Kreuzungen so gar keine Pfeile angebracht sind. Als ich an einer Kreuzung einen fahrenden Bäcker treffe, stehe ich für alle Fälle mal demonstrativ wegsuchend herum. Er schaltet extra den Motor ab und steigt aus, um mir liebevoll zu erklären, dass ich hier gerade so ein bisschen ganz falsch bin. Ich könnte geradeaus weiter laufen, dann käme ich schon auch irgendwann wieder auf den Weg, aber das will ich natürlich nicht. Nur Camino, und gerne immer mit Pfeilen. So ein komisches „sich irgendwie durchschlagen“ ohne Markierungen entspricht gar nicht meinem Sicherheitsbedürfnis.

Ich verstehe eigentlich nicht, wie ich auf einen falschen Weg kommen konnte. Der nachträgliche Blick in den Führer erwähnt einen Weg scharf rechts nach der Kirche. Kein Wunder, dass ich den verpasst habe. Nur mit Blick auf die schattigen Bänkchen bin ich ohne Augen für eventuelle Abzweigungen vollmotiviert an dem kleinen Weg vorbeigedüst.

Nach einigen hübschen Ausblicken auf das Meer in der Ferne geht es irgendwann auf die schnurgerade Piste, die von roten Abwasserrohren flankiert wird. Ich bin flott unterwegs und kann es kaum fassen, dass ich recht problemlos schon so weit bin. Bis auf die beiden bahnfahrenden Pilger von Weitem bin ich heute noch keinem Pilger begegnet, vermutlich bin ich auch als erste gestartet. Ich denke über meine geplante Herberge in Polanco mit den wenigen Betten nach. Vermutlich habe ich den Platz dort sicher. Und vermutlich sitze ich seit Stunden relaxt und fit wie ein Turnschuh auf meinem Bettchen, wenn gegen spätem Nachmittag einige verschwitzte, überanstrengte Pilger hoffnungsvoll zur Tür hereinlinsen. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich „sorry, alles voll, ihr müsst noch 4 Stunden weiter!“ sagen, bzw. ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich habe das dumpfe Gefühl, heute frischer und besser unterwegs zu sein als vielleicht einige andere der riesigen Gruppe von Santander. Ich konsultiere meinen Führer. Eigentlich wollte ich mir die nächsten 3 Etappen auf 4 aufteilen. Mit Stopp in Polanco habe ich dann aber entweder morgen einen ziemlichen Brocken von auch wieder 40km oder am Tag darauf. Ob ich die nun heute laufe oder später, schenkt sich auch nicht mehr viel. So laufe ich dann zügig an dem gelben Pfeil auf den Rohren vorbei, der den Abzweig zur Herberge nach links signalisiert. Die 6 Betten für Bedürftigere.

Nach einer Weile gehen mir die Rohre dann doch etwas auf den Geist, zumal ich keine Markierungen mehr sehe und auch langsam nicht mehr sicher bin, ob ich überhaupt noch richtig bin. Ich presche hier so begeistert durch die Gegend, was weiß ich, ob ich irgendein Stoppschild, bei dem es links hätte gehen sollen, schon längst passiert habe. So bin ich dann sehr erleichtert, als irgendwann in der Ferne besagtes rotes Schild auftaucht und auch wieder Pfeile. Eine Überführung leitet mich über die Bahngleise von Requejada, gefühlt 100 Stufen hinauf und wieder 100 hinunter. Ich hatsche nun langsam doch ein bisschen, die vielen Kilometer zeigen Wirkung.

Auf einem Bänkchen danach winkt mir das schwäbische Pärchen entgegen. Ich freue mich, habe sie ja auch seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie haben vor Güemes übernachtet und in Santander eine Pension genommen – und hinter Laredo auch den Bus. Sie hätten extra nochmal bis 9 gewartet, um in der Touristeninfo nachzufragen, wo sie nochmal die Auskunft erhalten hätten, dass keine Fähre fährt. Sehr merkwürdig, aber ich bin immerhin erleichtert, dass sie nicht nur wegen meiner vagen Fehlinformation darauf verzichtet haben. Peter lässt es sich nicht nehmen, anerkennend zu meinen, dass ich ja wirklich gut unterwegs wäre. Als er mich das erste Mal gesehen hätte, hätte er mir das nicht zugetraut. Ich schwanke zwischen Freude und etwas Negativerem. Nur, weil ich langsam laufe, muss es doch nicht heißen, dass ich nicht in der Lage bin, Etappen um 25 – 35km zu gehen. Vielleicht kommen mir seine Anmerkungen vor allem deswegen so merkwürdig vor, weil er mich coacht, als würde ich meine ersten Gehversuche auf dem Camino unternehmen. Er lobt mich hier begeistert für moderate Etappen und die Tatsache, dass ich nicht mehr ganz so schleiche wie anfangs. In meinem Hinterkopf ist dagegen noch die Peregrina von vor einigen Jahren, die jedes Tempo und jede Strecke gehen kann, die jedem als strong und schnell in Erinnerung bleibt, die auch problemlos 45km gehen kann – die aber einfach nicht mehr dieses grenzenlose Vertrauen in ihre Beine hat, seit damals etwas gerissen ist.

Als ich weitergehe, denke ich darüber noch etwas nach. Über diese seitdem bestehende Übervorsichtigkeit und Sorge um meine Beine. Ich erinnere mich an die ersten Tage hier auf dem Camino und daran, dass ich eigentlich die meiste Zeit nur verzweifelt irgendwelchem etwaigen Ziepen nachgespürt habe. Und mir wird bewusst, dass ich zumindest heute noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet habe, keinen einzigen Moment bewusst langsam gegangen bin. Vor allem aber wird mir bewusst, dass ich ebenfalls seit den letzten Tagen ganz automatisch meine Gedanken wieder mit „lieber Gott“ beginne. Jeder schöne Ausblick, jede überstandene Etappe, jeder nette Pilgerkontakt lässt mich ganz selbstverständlich „danke, das sieht ja wahnsinnig schön aus“ oder „lieber Gott, danke, dass das heute auch wieder geklappt hat“ denken. In den Kirchen und bei den Gottesdiensten habe ich Gott gestern noch etwas resigniert erfolglos gesucht – dabei ist meine persönliche Spezialleitung doch seit ein paar Tagen schon ganz unbemerkt wieder eingerichtet worden. Unspektakulär, aber bei näherer Betrachtung sehr wesentlich und bewegend.

Meine Wasserreserven schwinden etwas, sodass ich nach einem Supermarkt Ausschau halte. Momentan ist Siesta, keine Chance. Dafür fällt mein Blick auf eine Bar und eine Eiskarte. Eine tolle Idee, ich verwöhne mich mit einem leckeren Eis. Ich schaue einige Minuten mit großen Augen in die Truhe. Irgendwie bringt das der Camino so mit sich; man kann nicht einfach alles Mögliche in den Wagen laden, irgendwann wird man es schon essen, sondern alles muss wohlüberlegt und gewichtssparend sein. Im letzten Moment dämmert mir, dass fast alle Sorten Schokolade haben. Da geht die Wahl schon viel schneller vonstatten, es läuft so oder so auf ein gelbgrünes Wassereis hinaus. Ich mache noch Anstalten, mit meinem Wasserfläschchen aufs WC zu laufen, als der Wirt abwinkt und es mir von hinterm Tresen auffüllt.

Das Eis ist lecker, und ich muss dran denken, dass es vermutlich das Gleiche ist, das mein Mitpilger Joaquin vor einem halben Jahr gegessen hat (allerdings im Fünferpack).

So ein bisschen ist läuferisch gerade etwas die Luft raus, ich mache wieder haufenweise erschöpfte Pausen und bummele. Peter und Heike sind auch nicht viel besser, wir überholen uns alle halbe Stunde wechselseitig.

Die letzte Stunde geht es nochmal voll durch Weideland und endloses Grün. Mein Favorit sind natürlich die krachenden Wellen an der Küste, aber auch dieses reine Grün, so weit das Auge reicht in strahlend Hellgrün und strahlend Dunkelgrün und strahlend Froschgrün…

Als ein Ort in Sicht kommt, bin ich dann doch recht erleichtert, dass es wirklich schon Santillana ist. So ganz arg viel mehr würde ich heute nicht gehen wollen, und es ist auch bereits schon 17:30. Allerdings habe ich damit die vorgegebene Zeit exakt eingehalten, was mich nun doch überrascht.

Ich stolpere recht erschlagen in den Ort hinein, in dem es von Andenkenläden, Touristen und Schulklassen nur so wimmelt. Ich finde die schwer zu übersehende Kirche mit gegenüber einem Museum, durch dessen Garten es zur Herberge gehen soll. Ich durchquere den Garten und stehe vor einem riesigen, schwarzen Tor, welches ich nicht so recht aufkriege (und auch gar nicht sicher bin, ob ich das darf. Von Herberge steht nichts dran). Irgendwann fasse ich mir doch ein Herz, bringe den Riegel mit atemberaubendem Quietschen auf und habe Blick auf einen geschotterten Innenhof mit einer kleinen Herberge, vor dem schon die Kanadierin, Miguel und der Spanier mit Macho in der Sonne sitzen. Die Herberge hat irgendwie Puppenhausgröße, alles ist sehr eng beieinander, aber durchaus praktischer und moderner als gestern in Santander. Rechts und links gibt es einen kleinen Schlafraum voll mit 4 Stockbetten, davor noch je eine kleine Waschabteilung mit separater Dusche, WC und zwei separaten Waschbecken.

Zu meiner grenzenlosen Überraschung ist auch die Koreanerin schon da. Allerdings grinst sie, sie hat die Brückenproblematik heute per Zug umfahren, und gleich noch ein bisschen mehr. Auch der angenehme Rentner aus Güemes ist hier. Außer mir und der Koreanerin haben alle gestern eine längere Etappe gemacht und sind noch aus Santander herausgelaufen.

Ich wasche schnell (der Taubenklecks stört mich wirklich) und gehe noch auf Supermarktsuche, Helmut schließt sich mir an. Ich würde am liebsten in den kitschigen Souvenirläden nach irgendwelchen Kettenanhängern suchen oder in Ruhe Fotos machen, der Ort ist kitschig schön wie eine Filmkulisse.

Auch im Supermarkt ist Helmut nach ein paar Handgriffen fertig, während ich wie üblich unentschlossen und reizüberflutet alle möglichen Kombinationen durchspiele. Heute probiere ich einmal eine Fertigtortilla. Helmut ist nicht mehr im Laden, was mich nicht weiter wundert. So kann ich jetzt wenigstens auf dem Rückweg noch etwas bummeln. Ich kriege einen kleinen Schreck, als er noch brav vor dem Supermarkt wartet. Nachdem er derweil schon einen Dreiviertelliter Kakao geleert hat, habe ich wohl Ewigkeiten gebraucht.

Auf dem Rückweg druckst Helmut etwas herum. Ihm wäre aufgefallen, dass ich so unnahbar wirken würde. Nicht, dass das eine Eigenschaft wäre, die mir nicht auch schon mal durch den Kopf gegangen wäre, aber es überrascht mich doch sehr, nachdem ich gerade bei Helmut das Gefühl hatte, eigentlich sehr offen und vertrauensvoll zu sein. Ich frage, weswegen er das denkt. Er bringt ein Beispiel, als ich auf einem Hügel einfach in die Ferne geschaut und ihn und die Koreanerin nicht einmal gegrüßt hätte. Das wäre weit vor Güemes gewesen. Kunststück; nachdem ich ihn in Güemes das erste Mal gesehen habe, habe ich bei diesem imaginären Hügel vielleicht wirklich einfach nicht diese zwei Pilger bemerkt. Ich versichere, dass ich gegrüßt hätte, hätte ich sie gesehen, und dass ich eigentlich keinen besonderen Grund hätte, irgendwie unnahbar wirken zu wollen. Es verhallt recht ungehört, er philosophiert schon weiter, dass ich an den Klippen nach Güemes so abweisend gewirkt hätte und er sich da gedacht hätte „hey, dieses Mädchen schleppt etwas ganz, ganz Schweres mit sich herum“. An diesen Moment erinnere ich mich wirklich, und abweisend war ich vermutlich auch. An diesem Morgen war alle 20m ein Pilger unterwegs, und ich habe recht verzweifelt einfach mal eine pilgerfreie Minute gesucht, um geschwind in die Büsche zu verschwinden. Und auch ganz ehrlich habe ich meine Ruhe und die besondere Stimmung dort so genossen, ich hätte wirklich um keinen Preis mit jemandem laufen wollen. Ich war einfach überglücklich mit mir, dem Camino und vielleicht subtil ein paar ganz kleinen, versteckten Schwingungen von Gott. Helmut ist von seiner „ganz, ganz schweren“ Theorie überhaupt nicht abzubringen, ich kann erklären, so viel ich will. Er erzählt mir, dass er auf seinem letzten Camino gemerkt hat, dass er gut zuhören kann, dass sich vor allem auch Jüngere gern bei ihm „ausgekotzt“ haben. Während ich im ersten Moment fast ein bisschen geschockt war, wie er denken kann, dass ich absichtlich unnahbar bin, und mir dieser Eindruck sehr leid getan hat, so merke ich jetzt wirklich, wie meine Stimmung zu „unnahbar“ und Ablehnung wechselt. Er ist ein unheimlich netter Mensch, sicher wirklich auch ein guter Zuhörer, und dass es sich gut anfühlt, Leuten ein offenes Ohr zu bieten und ihnen dadurch zu helfen, weiß ich auch nur zu gut. Vermutlich hätte ich ihm auch früher oder später das ein oder andere erzählt, aber derart penetrant machen bei mir alle Schotten dicht. Es geht einfach überhaupt nicht. Wer hat schon Lust, sich offiziell „auszukotzen“. Ich trage auch nichts sehr, sehr Schweres mit mir herum. Gewisse Sorgen und Probleme sicher, aber die werden im Speziellen durch Auskotzen auch nicht besser, bzw. ich teile sie lieber mit Menschen, die ich näher kenne und bei denen es ein wechselseitiges Geben und Nehmen ist.

Ich sitze in der Abendsonne mit der Koreanerin, die mit Macho Stöckchenwerfen spielt. Er ist wirklich ein außergewöhnlich intelligenter Hund, und nachdem er mich mittlerweile kennt und nicht mehr anspringt und bebellt, kommen wir prima miteinander aus. Kurz vor 8 kommt noch ein erschöpfter Pilger unschlüssig in den Hof gestolpert. Er ist aus Deutschland und in Santander gestartet. Bis Bóo hat er den Zug genommen und wollte dann bis Polanco, so als Einstieg für den Anfang. Diesen und den nächsten Abzweig hat er dann verpasst und damit eine ungewollte Riesenetappe hinter sich. Entsprechend fertig ist er. Eine halbe Stunde später liegt er schon schlafend im Bett.

Ich stopfe meine Tortilla in die Mikrowelle, begeistert, dass das mit Folie geht und somit sehr abwaschfreundlich ist. Die heiße Tortilla balanciere ich dann Richtung Kirchplatz, wo ich nochmal die schöne Abendsonne und den Ausblick genießen will. Mir dämmert der Sinn von wärmenden Kartoffelwickeln. Die Tortilla bleibt die ganze Zeit wunderbar heiß.

Die beiden Schwaben setzen sich zu mir auf die Steinbank. Sie sind wieder in einer Pension untergekommen, und es stellt sich heraus, dass auch sie heute ein Stück Zug gefahren sind. Intuitiv hatte ich erwartet, dass Minuten nach mir der Pilgerpulk von Santander wie die Heuschrecken einfällt, aber auch 2 Stunden später ist niemand mehr gekommen. Ich bin die einzige, die heute die 40km gelaufen ist.

Die beiden warten auf Restaurantöffnung um 20:00. Wir plaudern ein bisschen, bzw. aktuell habe ich einen schweren Anfall von Redefluss. Die Frage, ob ich dann das nächste Mal dort weitermache, wo ich diesmal in wenigen Tagen aufhöre, ist ein Stich ins Wespennest. Ich erkläre, warum mein Herz schon auch ziemlich am Camino Frances hängt und was ich von dort vermisse. Hinterher habe ich fast ein schlechtes Gewissen, so viel herausgesprudelt zu haben. Na ja, wenigstens war ich nicht unnahbar.

Um 8 springe ich in die Kirche, die aber noch dunkel und leer ist. Die Messe ist in einem winzigen Nebenraum. Der Priester hustet die ganze Zeit, als würde er gleich kollabieren, und auch die wenigen anderen Misabesucher husten derart, dass ich ganz froh bin, dass es diesmal kein Zeichen des Friedens mit Händeschütteln gibt. Der Priester rattert sein Pensum seelenlos und schnell wie ein Maschinengewehr herunter. Ich versuche, mich dadurch zu trösten, dass er vielleicht einfach schwer krank ist und fiebrig nur im Kopf hat, möglichst schnell wieder ins Bett zu kommen.

Ich fange die letzten Sonnenstrahlen vor der Herberge ein. Helmut kommt dazu, er erzählt mir von einem Tagebuch, welches seine Familie extra für ihn angelegt und auf seinem ersten Camino in sein Gepäck geschmuggelt hat. Jeder hat liebe Worte auf die ersten Seiten geschrieben, und mir kommen auch fast mit die Tränen, als er erzählt, wie gerührt er davon war. Er erzählt, dass er seitdem dieses Tagebuch immer dabei hat und auch liebe Pilgerbekanntschaften etwas hineinschreiben lässt. Mir schwant schon Ungutes, sodass ich (denkbar unnahbar) nur diplomatisch meine, dass das ja sehr schön ist. Er scherzt, dass ich damit rechnen müsste, mich im Lauf des Caminos auch noch darin zu verewigen. Ich grinse höchst schief zurück. Mir ist das Ganze sehr unangenehm. Ich schätze Helmut wirklich sehr, kann aber einfach nicht das bieten, was er sich wohl erhofft. Und will ganz sicher nicht in sein heiliges Tagebuch schreiben, wenn ich nachher als unfreundliche Enttäuschung ende, die irgendwann einen Wutanfall bekommen hat. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass mir seine Hilfsbereitschaft einfach zu aufdringlich ist.

Wie bei so einer atmosphärenreichen Herberge und so liebevoll gestalteten Stockbetten nicht anders zu erwarten, schlafe ich exzellent. Die Luft ist am Morgen kühl und frisch, so, als hätten wir draußen geschlafen. In meinem Schlafsack plus einer Wolldecke hatte ich es aber durchweg warm.

Um 8 Uhr soll es Frühstück geben. Eigentlich bin ich um diese Zeit schon unterwegs, und Gruppenfrühstück ist auch nicht mein Ding. In Anbetracht dieser grandiosen Herberge mache ich aber eine Ausnahme.

Der große Holztisch ist schon liebevoll gedeckt. Es gibt sogar für jeden ein eingetütetes Pain au chocolat. Au chocolat, wie ich leidgeprüft feststelle. Ich leite es an die Koreanerin neben mir weiter. Auch der Kaffee sieht wieder unnötig lecker aus. Meinen nächsten Camino werde ich auf nach Ostern und auf nach die Fastenzeit legen. So schaufle ich eben bergeweise Baguette mit Marmelade in mich hinein. Ich habe keinerlei Vorräte mehr, im worst case muss es bis Santander reichen.

Zu der besonderen Atmosphäre, die ich gar nicht beschreiben kann, kommt noch der Sonnenaufgang, der durch die weit geöffnete Tür hereinstrahlt und die Frühstücksrunde in ein wärmendes Licht taucht. Paradiesisch.

Irgendwie belasse ich diese friedliche Atmosphäre am liebsten wieder so, bevor sie sich in morgendlichen Gesprächen zerredet, und mache mich zu meinem Rucksack auf, der schon gepackt vor der Tür des Haupthauses steht. Ich suche nur noch Padre Ernesto, der zwischenzeitlich beobachtend am Tisch präsent war.

Der Sonnenaufgang ist schlicht, aber bewegend. Das Pferd von gestern grast auch am Morgen ähnlich ruhig und bedächtig, zur Rechten vor dem Haus liegt der riesige Kalbshund friedlich vor seiner Hundehütte. Durch die Blumenbeete kommt dann auch wie auf Kommando Padre Ernesto gewandelt. Ich bedanke mich für den Aufenthalt und gebe ihm das Armbändel, das ich gestern gemacht habe, für den Piano-Spieler aus Salamanca. Für „buen suerte en la vida“. Ernesto schaut wie immer recht unbeweglich und nachdenklich unter seiner weißen Haarpracht hervor, starrt auf das Bändel und wiederholt abwesend „buen suerte en la vida“, sodass ich schon einen kleinen Moment panisch werde, was ich da jetzt wieder für eine spanische Wortkreation verbrochen haben könnte. Dann strahlt er plötzlich, wiederholt andächtig „una pulsera para buen suerte en la vida de la chica de Suiza de la montaña“ und wünscht mir auch viel Glück im Leben. Und er denkt, dass ich das haben werde. Er wedelt mich nochmal zurück in den großen Raum, wo am Eingang zwei Körbe mit Wegzehrung stehen. Mein Scannerblick detektiert treffsicher zweimal Schokoladengehalt. Der Padre lässt sich gleich nochmal zu einem Lächeln hinreißen, er findet diese Disziplin gut. Dafür bekomme ich dann noch einen Apfel und eine Orange, worüber ich im Moment wirklich sehr dankbar bin.

Ein Stück weit mit schwerem Herzen und gleichzeitig auch wie auf Wölkchen mache ich mich dann auf den Weg. Eine magische Herberge und dann noch ein Lächeln vom Padre- was könnte man mehr brauchen zum Glücklichsein.

Die magischen Wölkchen machen mich mal wieder derartig langsam, dass mich nach einer Weile auch die länger frühstückenden Pilger eingeholt haben. Nur die Deutsche mit Hund hat entschieden, sich in Anbetracht ihrer Beinschmerzen einen Tag Auszeit zu gönnen – wo könnte man das auch besser als in Güemes.

Ich finde es fast schon ein wenig befremdlich, in welch einem Pilgerpulk ich plötzlich unterwegs bin. Vor und hinter mir pilgert es, soweit das Auge reicht. Wir erreichen den ersten Ort, an dem wir nun einem „playa“-Pfeil folgen sollen, um ja nicht dem Camino zu folgen, sondern dem Ernesto-Spezial-Küstenweg. Der „playa“-Pfeil kommt vor dem Zentrum des Ortes. Eigentlich wollte ich hier ja einen Supermarkt aufsuchen, aber nach großem Umweg ist mir dann doch nicht. So folge ich den vielen Rucksäcken nach rechts Richtung gefühlte Küste.

Diese erreichen wir dann wirklich bald, und ich bin hin und weg. Laut Ernesto 70m über dem Meer geht es zwischen grünen Weiden und der Steilküste entlang, mit beeindruckenden Blicken auf das Meer. In riesigen Wellen schieben sich die Wassermassen kraftvoll und doch gleichzeitig irgendwie ruhig und mächtig an der Küste entlang. Das berührt mich so grundlegend, dass ich mich eine Weile ins Gras setze und das Ganze auf mich wirken lasse. Auch, um die Pilgerkolonne etwas Abstand gewinnen zu lassen. Diese wunderbare Stimmung möchte ich auf keinen Fall zerplappern.

Als ich gerade wieder auf den Weg zurückgehe, kommt mir ein kleiner Lieferwagen entgegen, der ein paar Häuser weiter hält, um Brot abzuliefern. Ich stelle mich etwas schüchtern dazu und erstehe ein tolles, ofenfrisches Ciabatta-Brot. Kein Vergleich zu den sonstigen brettharten Baguettebroten – und ein Segen für meinen leeren Rucksack und meine „ich-könnte-ja-verhungern“-Sorgen.

Der Weg könnte ewig so weiter gehen, und ich bin fast etwas traurig, als irgendwann Santander in Sicht kommt – mit einem beeindruckenden Strand und, noch beeindruckender, den Picos de Europa mit ihren schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund.

Als wäre der Tag heute nicht schon eindrucksintensiv genug und kaum zu überbieten, überwältigt mich der anschließende Strand so richtig. Im Gegensatz zu Noja mit grauen Wolken scheint heute strahlende Sonne bei gleichzeitig wild krachenden Wellen. Während ich in Castro Urdiales begeistert drei Muscheln gefunden habe, ist der Strand hier absolut übersät mit Muscheln, ich kann nicht einmal einen Schritt machen, ohne nicht knirschend etwas von dieser Pracht zu zertreten.


Ich treffe die Koreanerin, die begeistert barfuß durch die Wellen stapft. Ich lasse brav wie immer meine Stiefel an. Sonst gibt es ja hinterher am aufgeweichten Fuß leichter Blasen, ich könnte in eine Qualle oder eine Glasscherbe treten, und in Anbetracht meiner komplizierten Kompressionsstrümpfe ist das auch zu viel Aufwand. Zum Glück ist der Strand endlos lang und lässt genug Zeit, es mir doch noch anders zu überlegen. Die heutige Etappe ist nur 15 km lang, genau richtig für einen derart meditativen Tag und derart eindrucksvolle Landschaft. So ziehe ich dann doch noch meine Schuhe aus und laufe begeistert durch die kalten Fluten. Ich knipse bestimmt hundert besonders schöne Wellen und mache begeistert Serien von Selbstauslöserfotos. Und den ein oder anderen spritzenden Sprint mit den Wellen an Land, wenn eine ungeplante Riesenwelle an Land rollt und meinen Rucksack mit aufbalanciertem Fotoapparat zu umspülen und umzuspülen droht. Ich vertrödele sicher zwei Stunden damit, mich an meinen Fußspuren im trockenen oder im feuchten Sand zu erfreuen, an den Wellen und Muscheln- und an der Tatsache, dass ich bis auf ein paar Surfer und ein paar Hunde völlig allein hier bin und das Gefühl habe, dass es sowas wie Zeit gar nicht gibt.

Es ist seit langem mal wieder ein Tag von „I can reach heaven from here“.

Irgendwann ziehe ich meine Stiefel wieder an – ähnlich schweren Herzens, wie ich heute morgen Güemes und später die Steilklippen verlassen habe. Die Skyline von Santander rückt immer näher, irgendwann am Ende des Strandes müsste die Fähranlegestelle kommen, mit der es dann direkt nach Santander geht.

In einiger Entfernung vor mir stolziert ein wackerer Schwimmer in die Fluten – hüllenlos, wie ein Blick auf den Hintern offenbart. Ich bin moderat begeistert bei der Aussicht, dass er sicher gerade in dem Moment wieder herausstolziert, wenn ich dran vorbeilaufe. Zum Glück springt er erstaunlich schnell auch wieder aus dem Wasser (bei den Temperaturen eigentlich kein Wunder) und verschwindet in den Dünen, bevor ich in unangenehmer Nähe wäre. Kaum komme ich auf dieser Höhe vorbei, ruft es dann leider prompt doch von links. Ich laufe mit Blick geradeaus stur weiter, ich werde da jetzt sicher nicht neugierig interessiert nach dem Rufer schauen. Es ruft und ruft, „hola“, „hey“, „pst“, „heh“, ich stoffele zielstrebig flugs geradeaus. Leider kommt das Rufen immer näher, und als der gute Mann schon fast direkt an meinem Ohr ist, entschließe ich mich dann doch lieber zu einer Konfrontation – allerdings mit Blick stur auf Höhe Brust aufwärts. Wider Erwarten erspähe ich aus den Augenwinkeln ein lila Handtuch in Hüfthöhe, was mich fürs erste halb beruhigt. Ob ich nach Santiago wolle, dann wäre ich ja auf dem falschen Weg, schon viel zu weit. Aber es gäbe eine Abkürzung, direkt durch die Dünen, ich soll mitkommen, er könnte sie mir zeigen. Ich bedanke mich höflich für den Hinweis, ziehe aber den Strand vor. Er diskutiert herum, dass das aber falsch wäre und viel zu weit, ich solle doch mitkommen. Irgendwann dämmert ihm dann wohl doch auch durch meine vordergründige Höflichkeit meine pampige Beharrlichkeit, sodass er fluchend allein in den Dünen verschwindet.

Nice try, sonst noch Wünsche. Kopfschüttelnd laufe ich weiter am Strand lang, zücke aber nach ein paar Minuten doch noch interessehalber zum ersten Mal am heutigen Tag meinen Führer. Heute laufe ich ja nicht auf dem offiziellen Camino und erwarte mir daher auch keine hilfreichen Erkenntnisse. Ich habe nur die Karte von Padre Ernesto im Kopf, wonach es sehr einfach und logisch den ganzen Tag möglichst nah am Meer entlang geht, bis man ebenso logisch irgendwann auf die Anlegestelle stoßen muss. Ein früherer Blick in den Führer hätte nicht schaden können; es stellt sich heraus, dass ich gar nicht so panisch den unausgeschilderten Geheimtipp von Padre Ernesto hätte gehen müssen – mein Führer beschreibt ohnehin ganz offiziell diese Variante. Während ich noch nach der Textpassage mit der Schiffsanlegestelle den Text durchforste, spricht mich eine freundliche ältere Dame an, ob ich nach Santiago wolle. Ich wäre da falsch und hätte bereits bei der Stadt zur Linken vor ein paar Minuten abbiegen sollen. Könnte nun aber noch quer durch die Dünen zum Schiffsanlegesteg.

Ich bedanke mich und starre nochmal in Ruhe meine Karte an. Der Wegverlauf ist sehr eindeutig, eben nicht endlos am Strand entlang. Wäre ich da wirklich einfach am Meer entlang gelaufen, hätte ich einen Riesenumweg gemacht. Ich bekomme ein akut schlechtes Gewissen dem Herrn Nacktbader gegenüber, während ich mich schuldbewusst verstohlen durch die Dünen schlage.

Am Bootssteg tuckert gerade eine Fähre davon, ich nutze also die verbleibende halbe Stunde für einen kleinen Abstecher in den Ort von Somo, vielleicht findet sich ja doch noch ein Supermarkt. Tut es nicht, dafür aber eine Bäckerei mit Konditorei-Anteil und wunderbar lecker aussehenden Schnittchen und Stückchen. Neben einer nahrhaften Puddingschnecke gönne ich mir zur Feier des heutigen Tages ein Cremetörtchen, welches ich mit einem winzigen Gäbelchen auf einem silbernen Papptablett liebevoll und luxuriös verpackt bekomme. Während ich auf dem Rückweg das Puddingteilchen vertilge, zelebriere ich mein Törtchen in aller Ruhe ordentlich entspannt im Schatten des Wartehäuschens. Meine Sorte sieht aus wie mit Heidelbeerglasur und soll Orujo enthalten (was auch immer das ist). Der Glamour wird höchstens dadurch etwas getrübt, dass Orujo zumindest in Cremeschnittchenform wie Terpentin schmeckt.

Nach zu schnell gegessener Schnecke und charismatischem Orujo- Nachgeschmack wird mir etwas flau in Anbetracht der Fährüberfahrt, nachdem mir eh schon immer bei jedem noch so kleinen Geschaukele abgrundtief schlecht wird. Aber ich habe Glück und überstehe die Überfahrt schadlos.

Irgendwie bin ich heute dann doch etwas platt und zerzaust, als ich in Santander wieder recht erfolglos versuche, auf dem Camino zu bleiben. Irgendwann schlage ich mich dann auf gut Glück zur Kathedrale durch, in deren Nähe die Herberge sein soll. Ich kann den Führer mal wieder drehen und wenden, wie ich will, so richtig schlauer werde ich nicht. Ich frage mich wieder überall durch, bin derweil den morgigen Camino schon eine Viertelstunde abgelaufen und kenne alle Sträßchen um die Kathedrale in- und auswendig, bis ich dann doch noch an einem unscheinbaren (und moderat anheimelnden) Häuserblock das Herbergsschild entdecke. Durch ein Treppenhaus lande ich an einer Tür mit „bitte kräftig Klopfen“, was ich auch minutenlang erfolglos probiere. Irgendwann wird doch noch die Tür aufgerissen – von einer Hospitalera, so charismatisch wie mein Orujo-Schnittchen. Sie schnattert überherzlich und völlig überdreht und konfus vor sich hin, willkommen, nimm doch erstmal Platz, nein, Dein Credencial, nein, sorry, fühl dich wie zu Hause, hoppla, dann doch lieber erst einchecken, nein, Deinen Rucksack hier, entspann Dich. Mir raucht der Kopf, wozu nicht zuletzt das Erscheinungsbild beiträgt. Wer jeden Nachmittag in blauen Gummischuhen in der gleichen Trekkinghose und dem gleichen schlabbrigen XXL-Billiganbieter-Fleecepulli herumschlurft, ist vielleicht nicht prädestiniert, modische Kritik anzubringen. Trotzdem: der Ganzkörpersack aus lila Samt, garniert mit maisfarben blondierten Haaren und silbernem Augenmakeup, ist in Kombination mit der sehr rundlichen Figur ein modischer Alptraum. Bei jeder Bewegung erwarte ich zudem intuitiv das Auftauchen einer Wahrsagerkugel.

Die Herberge ist eher düster und ziemlich vollgestellt mit Betten. Dass Esmeralda ständig hilfreich um mich herumspringt, schafft auch nicht gerade mehr Platz. Die Koreanerin ist auch schon da und verschwindet gerade zum Duschen im einzigen Damenbadezimmer. Ich beschließe spontan, die Wartezeit zu nutzen und zum ersten Mal auf diesem Camino das Internet zu nutzen. Ich frage Esmeralda, ob sie mir meine 2-Euro-Münze automatentauglich wechseln kann. Sofort wuselt und walzt sie begeistert zu ihrer Rezeption, um mir strahlend und hilfsbereit leider nur einen Euro anbieten zu können. Den zweiten kriege ich dann später. Ach, nein, nein, ich solle meine 2 Euro noch behalten und ihr nachher einfach noch einen bringen. Auch gut. Ungefähr zehnmal erklärt sie mir etwas agitiert das weitere Vorgehen in Sachen fehlender Euro, während ich warte, bis der Computer hochgefahren ist. Mittlerweile ist sie zufrieden dabei angekommen, dass ich ihr nachher also noch 3 Euro schulde. 3? Ja, weil meine 2 hätte sie mir ja schon zurückgegeben. Ich erkläre ihr, dass das ja auch meine waren, damit sie mir in Folge minutenlang gütig darlegt, warum es jetzt 3 sind. Es ist ja fast albern, hier ein Drama wegen 3 Euro zu machen, aber die Frau ist schon der Knüller. Sie will es mir immer weiter erklären, und wir schließen dann einvernehmlich damit, dass ich ihr jetzt nochmal meine 2 Euro gebe, damit ich dann später einen von ihr zurück bekomme. Hauptsache, sie ist weg. Das Internet funktioniert ewig nicht. Sie meint, es würde eben einfach langsam gehen. Der Computer hat irgendeinen anderen kapitalen Schaden, aber das diskutiere ich lieber gar nicht erst. Als irgendwann endlich das Internet aufgeht, stelle ich zu meiner Freude fest, dass 90% der Tasten nicht funktionieren – es sei denn, man parkt den Finger eine halbe Minute darauf. Das Eingeben meines Passwortes ist ein minutenlanger Hochgenuss sondergleichen. Nach einer halben Stunde bin ich zumindest beim Posteingang angekommen und stelle befriedigt fest, dass keine Stornierungsmail bezüglich meiner Busfahrt und meines Rückfluges vorliegt. Mehr verkraften meine Nerven heute wirklich nicht.

Während ich in der spärlichen Neonröhrenbeleuchtung mit meinem Waschtäschchen warte, kriege ich höchst unmeditative Zustände angesichts dieses Computers und des allgegenwärtigen Traums in lila Samt, der mittlerweile immerhin ohne weitere Diskussionen und Erklärungen einen Euro für mich abliefert. Die Koreanerin ist nach einer halben Ewigkeit endlich fertig mit Duschen, fängt nun aber („5 Minuten!“) noch an, ihre Wäsche im Waschbecken zu waschen. Ich drehe noch durch.

Nach dem Duschen hänge ich meine Wäsche etwas skeptisch aus dem Fenster in einen taubenbevölkerten Innenhof. Wenn hier etwas von der Leine fliegt, liegt es auf einem unerreichbaren Vordach. Ich mobilisiere alle meine Sicherheitsnadeln.

Die Herberge hat keine guten Schwingungen, daher ergreife ich die Flucht und gehe auf Supermarktsuche. An der Rezeption laufe ich Chrissie und Maike in die Arme. Ich kann mir ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen angesichts der Vorstellung, wie Chrissie diese liebevolle, chaotische Betüttelung wohl schätzen wird.

Es gäbe einen Carrefour, paradiesisch. Leider finde ich den nicht und renne wieder die gleiche Straße zehnmal auf und ab. Santander scheint mir nicht so recht zu liegen. Als ich den Laden dann doch gefunden habe, fällt mein erster Blick auf einen Mann, der sich begeistert alle möglichen Tütchen in die weite Jogginghose stopft und damit dann etwas sperrig zum Ausgang schlendert. Ich bin so beeindruckt baff, ob der das ernsthaft klauen will, dass ich keinen vernünftigen Gedanken zustande bringe.

Während ich begeistert meine Vorräte wieder auffülle und endlich auch wieder frische Artikel wie Salat, Erdbeeren und Zucchini erstehe, fällt mir mit schlechtem Gewissen ein, dass ich jetzt schon wieder nicht mit Maike und Chrissie koche und einfach irgendwie hoffnungslos unsozial bin. Aber noch zwei Stunden länger warten in der Herberge, bis die beiden sich in dem einen Badezimmer dann geduscht und ihre Wäsche gewaschen hätten, das hätte ich sicher auch nicht überstanden.

Zum vollkommenen Glück fehlen mir heute noch Postkarten. Endlich habe ich ja mal eine kurze Etappe, viel Zeit und beste infrastrukturelle Voraussetzungen. Leider finde ich nur einen Kiosk mit Postkarten, und die Auswahl ist indiskutabel. Irgendwas mit dem Camino brauche ich ja schon, wenigstens eine Strandansicht oder eine Kuhweide. Ich kann doch nicht irgendeine Kirchenansicht nach Hause schicken, die ich noch nie gesehen habe. Andererseits tun mir die Füße weh, ich schleppe wieder einmal viel, viel zu viel Einkauf, und meiner angespannten Grundstimmung tut das Entlangrennen an der Hauptstraße auch nicht gut. Ich habe schon 4 Karten in der Hand, ist doch wurst, ob das Motiv nun gut ist oder nicht. Im letzten Moment stecke ich sie dann doch zurück. Der eh schon dünne Karton ist vom Regen gewellt, auf den Vorderseiten hat es Abdrücke der Linien der vorigen Karten, das bringe ich einfach nicht übers Herz. Also doch weiter die Straße entlang. Ich frage Passanten, ugh, oh, anscheinend sind Postkarten ein Ding der Unmöglichkeit. Oder die vom Kiosk. Eine Frau guckt mich verständlicherweise etwas böse an, als ich entnervt frage, ob es denn hier gar keine schönen Postkarten gibt. Durch das Schaufenster eines Buchladens erspähe ich im Inneren einen Steller mit Postkarten. Das Personal guckt zwar etwas befremdet von seinen edlen Schreibgeräten auf, als ich zielstrebig durch den Laden stürme, aber die Karten sind der Hammer. So genial, dass ich gut eine halbe Stunde unentschlossen davor stehe (und die Damen und Herren vermutlich schon in misstrauische Panik versetze, dabei trage ich doch gar keine weite Jogginghose). Die Karten sind nur alle Oversize, sodass ich einen Herrn frage, ob das denn irgendwie kompliziertes Überporto kostet. Vermutlich ist er distinguiertere Fragen gewohnt und braucht erst einmal ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Nein, es wäre selbstverständlich kein Problem, und ich würde ja ohnehin Umschläge für die Karten bekommen. So trabe ich dann stolz wie Oskar mit vier Panoramakarten und gefütterten, vermutlich handgeschöpften Umschlägen aus dem wunderbaren Laden. Würde ich in Santander wohnen, würde ich vermutlich jede freie Minute dort verbringen. Nein, vermutlich würde ich bei Padre Ernesto abhängen oder Klavierspiel lauschen.

Wenn schon, denn schon, gönne ich mir zwecks Briefmarken auch gleich die Hauptpost. Ich bin nicht mehr so überzeugt von dieser Idee, als ich mir ein Nümmerchen ziehen muss und mit riesiger Einkaufstüte meine Errungenschaften so jongliere, dass die Erdbeeren nicht vermatschen, während um mich herum lauter Geschäftsmänner vermutlich nicht Briefmarken kaufen. Da blinkt schon meine Nummer, ich wedele etwas zweifelnd mit meinen Umschlägchen. Na klar gibt es hier Briefmarken, die Größe des Umschlags ist auch prima, und ich bekomme drei farbenfrohe Schmetterlingsmarken. Ich stammle begeistert, dass die ja toll wären. Die Frau am Schalter guckt etwas verwundert, klar wären die toll. Es wären ja schließlich auch mariposas, Schmetterlinge. Hm.

Ich bin eine Mischung aus begeistert und fertig, als ich endlich wieder in der Herberge bin. Ich habe gerade noch Zeit, drei Karten herunterzuschreiben, als auch schon die Messe ruft. Offensichtlich hatte ich etwas falsch im Kopf, ich komme gerade zum Ende der Messe in die Kathedrale. Aber eine halbe Stunde später gibt es nochmal eine in einer Nebenkapelle. Derweil werfe ich meine Briefe ein – auch eine dumme Idee an der Hauptpost, an der die ganze Front mit etwa zehn verschiedenen Briefkästen für die unterschiedlichen Bestimmungsorte verziert ist. Ich verpasse fast meine zweite Messe, bis ich endlich irgendetwas wie „Ausland“ finde.

Der Raum für die Messe ist beeindruckend, eine Etage unter der Kathedrale, überall umgeben von sehr altem, verzierten Stein. Auch ist sie verhältnismäßig gut besucht. Trotzdem kommt bei mir auch diesmal einfach rein überhaupt kein Gefühl auf. Ich bin einen Hauch von resigniert, obwohl es mich nicht weiter überrascht. Zwei Damen hinter mir strahlen mich überaus warm an, ich müsste doch die Tochter von sonstwem sein. Eher unwahrscheinlich, aber ich lächle warm zurück.

In der Herberge ist großer Trubel, es sind mindestens 30 Leute da, dazu noch eine große Gruppe Radpilger, die ihre Räder noch in den eh schon verwinkelt engen Schlafsaal mitgenommen haben. Ein älteres, deutsches Trio hat sich um mein Bett herum niedergelassen. Ich konnte den Ansturm noch nicht vorhersehen und habe unbedachterweise einige Sachen auf dem oberen Stockbett deponiert, welches jetzt ein ziemlich faltiger Drache bevölkert. Irgendwie verstehe ich natürlich, dass sie genervt meinen überall ausgebreiteten Krempel unters Bett gefeuert hat, so richtig zur herzerfrischenden Wohlfühlstimmung trägt es aber doch nicht bei.

Ich verdrücke mich in die kleine Küche, in der es wie wild kocht. Chrissie lernt seit ein paar Tagen sehr engagiert Spanisch von Maike, sitzt nun gerade mit ihrem kleinen Tagebuch da und schreibt säuberlich Deklination um Deklination herunter. Ich umschiffe vorsorglich heikle Themen, sodass wir uns nett unterhalten. Sie möchte anschließend noch Wäsche in der Maschine waschen. Diese ist allerdings noch belegt, und wie man das nun zeitlich koordiniert bekommt, versetzt die Hospitalera mal wieder in höchste Panik. Sie springt alle 2 Minuten in die Küche, um Chrissie zu unterrichten, wie das nun von statten geht, und es ist ähnlich schlüssig wie die drei-Euro-Theorie. Man könnte ja auch einfach die Wäsche wechseln, sobald die Maschine fertig ist, aber dann hätte ja eine besorgte Hospitalera gar nichts zu werkeln. Für die nächsten Wochen ist auch schon ein weiterer Hospitalero in den Startlöchern, ein Routinier, der seine schlauen Theorien auch jedem ungefragt aufdrängt. Morgen müsse man nach Santillana, unbedingt. Ich gehe morgen sicher nicht fast 40km, ganz unbedingt. Ich gucke wohl schon wieder ähnlich feindselig wie beim Dünenmann.

Als sich die Kochschar lichtet, brate ich mir schnell ein delikates Gemüse zusammen, welches mit meinem Klippen-Ciabatta sehr gut mundet. Die Erdbeeren hinterher sind fast schon zu viel. Ich will gerade meinen Käse für morgen in den Kühlschrank stellen, als mir mein Salatpäckchen ins Auge sticht. Das hab ich ja komplett vergessen. Also noch Salat direkt aus der Plastikfolie zum Abschluss.

Außer einem netten radelnden Québécois sitze ich noch mit Maike, Chrissie und Kathrin in der Küche, irgendwie ist es heute eine sehr nette, angenehme Truppe. Morgen wollen die meisten nach Santillana. Ich nur bis Polanco, diese Ruhe habe ich mir nun ja extra herausgearbeitet.

Als ich um 9 an meinem Bett bin, mache ich noch Bekanntschaft mit einem weiteren deutschen Exemplar. Halb vorwurfsvoll, halb jammerlappig moniert er, ob ich denn jetzt endlich mal das Licht (welches schon die ganze Zeit brennt) ausmachen könnte, er wolle ja schließlich schlafen. Ich schalte verzagt meine abgedunkelte Taschenlampe ein und ziehe meinen Waschbeutel unterm Bett hervor. Die impulsive Lady über mir reißt sich daraufhin theatralisch den Schafsack über die Ohren. Mamma mia. Da laufe ich morgen doch gern erst recht nur bis Polanco.

Ich schlafe denkbar schlecht. In unserem Zimmer ist es viel zu warm und stickig, noch dazu sirrt mir eine Stechmücke ums Ohr. Ich ziehe kurzerhand die Bettdecke über den Kopf, was der Wärme, Stickigkeit und dem Weichspülerduft naheliegenderweise den Rest gibt.

Mein innerer Rhythmus lässt mich um 8 auf die Uhr leuchten. Wie üblich kriege ich einen Schreck. Ich sammle alles schnell zusammen und packe in einer Sofaecke vor der Küche. Der Rest meines Zimmers schläft noch tief und fest, kein Wunder bei den heruntergelassenen Rollos.

Unten auf der Straße ruft es plötzlich nach mir. Ich schaue zu unserem Zimmer hoch, aber Fehlanzeige. Ich laufe weiter, es ruft noch immer. Vermutlich hat mein Ohr eine schlechte räumliche Orientierung, ich brauche Ewigkeiten, um endlich am Ende der Straße zwei Pilger auszumachen, die mit ihren Stöcken wedeln. Es ist das schwäbische Pärchen, welches ich seit Gernika nicht mehr gesehen habe. Irgendwie ist es nett, sie wiederzusehen, und ich bin froh, mit jemandem über die Fährproblematik sprechen zu können. Sie sind überrascht, dass da nichts fahren soll. Ich mache wieder fröhliches Passantenkonsultieren, werde davon aber auch nicht richtig schlauer. Eine alte Frau meint „ja, ja“, da gäbe es eine Fähre, und ob die fährt, könnte ich doch am besten bei den Busfahrern erfragen. Ich stehe ziemlich direkt vor dem Busbahnhof, insofern eine gute Idee. Heike möchte erst noch einen Kaffee trinken gehen, sodass sich unsere Wege trennen.

Ein Bus nach Santoña lässt gerade den Motor an. Alles geht ein bisschen schnell. Am Einstieg steht unschlüssig ein bekanntes Gesicht, die kleine Pilgerin aus Orió. Ich frage gleichzeitig sie und den Busfahrer nach der Fähre. Sie möchte eh abkürzen, ob es nun eine Fähre hat oder nicht, ist ihr egal. Der Busfahrer guckt schon ungeduldig in den Rückspiegel, der nächste Bus fährt erst in einer Stunde. Ich kann überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. Eigentlich wollte ich die Stunde am Strand von Laredo entlanglaufen, und falls es wirklich keine Fähre gibt, dann eben den Bus nehmen. Aber wie es aussieht, gibt es dort keine Haltestelle, ich müsste wieder die Stunde zurück zu diesem Busbahnhof oder ähnlich weit hinunter nach Colindres. So springe ich dann doch in letzter Minute an Bord, bin aber völlig zerrissen, als es mit dem schnellen Überlandbus die Straße entlang geht, an Caminomarkierungen vorbei. Für mich geht das einfach überhaupt nicht.

Kathrin sieht das viel entspannter. Sie ist bisher viel mit dem Bus unterwegs gewesen, ihr Camino endet übermorgen in Santander, und nachdem sie nicht gern läuft und manche Orte gerne sehen will, fährt sie halt immer wieder irgendeine Strecke. Dass ich seit Orió alles zu Fuß gelaufen bin (von den 15 km Metro hinter Bilbao abgesehen), versetzt sie in ungläubig bewunderndes Staunen. Generell ist sie mir heute um Welten sympathischer. Sie hat eine langsame, verträumte, etwas abwesende Art, die aber irgendwie gut passt.

Wir düsen eine halbe Stunde durch die Gegend, ich habe das Gefühl, dass ich hier den halben Camino verpasse. Ich tröste mich, dass wir eben einfach einen großen Bogen fahren müssen und ich wirklich nur den Strand von Laredo verpasse. Trotzdem finde ich erst einen gewissen Frieden, als ich im Führer von der Möglichkeit lese, direkt von Santoña den Monte Buciero zu umrunden. Mein Führer schreibt von spannenden Ausblicken auf die Küste und Waldpfaden durch dichte Steineichenwälder – und endlich einem Leuchtturm. Vor allem aber wäre ich mit diesen 6 km extra wieder quitt mit dem, was ich per Bus abgekürzt habe.

In Santoña steigen wir etwas orientierungslos aus dem Bus. Mit gelben Pfeilen passieren wir sonst mühelos selbst Großstädte wie Bilbao, aber ohne den Weg ist man selbst in kleinen Orten etwas aufgeschmissen. Für Kathrin frage ich in einer Bar nach der Richtung zum Camino (zum Glück, denn meine Intuition hätte genau in die Gegenrichtung geführt) und für mich nach dem Abzweig zum Monte Buciero. Der Barmann guckt mich finster an, nein, nein. Peligroso, gefährlich, schließlich hätte es doch geregnet, das könnte ich heute nicht gehen. Ich stehe etwa bedröppelt auf der Straße, irgendwie geht mir heute alles zu schnell. Der Mann hat sich aufgeführt, als wollte ich ein Lawinengebiet oder einen gerade ausbrechenden Vulkan durchqueren, eigentlich möchte ich doch nur einen ebenen Waldweg entlangtraben. Ich bin immer noch nicht ganz überzeugt, da kommt er nochmal extra aus der Bar heraus, um uns nochmal die Richtung zum Camino zu zeigen. Zu mir sagt er nochmal etwas freundlicher, dass ich wirklich besser da langgehe, er macht Zeichen, als ob nach einem Regenwetter da Äste und ganze Bäume vom Himmel fallen oder sich der ganze Berg steinschlagtechnisch abträgt. Na gut.

Ich bin durcheinander und auch noch nicht wirklich wieder in Pilgerstimmung. Es geht eine Straße mit wenig Pfeilen entlang, ich bin die ganze Zeit etwas unentschlossen und unsicher. Die kleine Kanadierin überholt mich mit einem verbissenen, kurz angebundenen „hola“ und ihrem typischen, schnellen Rascheln der aneinanderreibenden Regenhose.

In Berria führt der Weg parallel zum Strand entlang. Ich entschließe mich zu einem Abstecher ans Meer und lasse mich von den rauschenden Wellen wieder etwas erden.

Am Ende des Strandes geht es einen kleinen Hügel hoch – auf einem noch kleineren, lehmigen Weg. Zeitenweise muss ich mich ziemlich ducken bzw. sehr schmal machen, um mit meinem Rucksack zwischen den Felsen und Ästen vorbeizukommen.

Mit schöner Aussicht geht es zwischen gelbem Ginster, weidenden Ziegen und Blick aufs Meer in die Höhe, bis ich plötzlich auf dem lehmigen Untergrund ausrutsche. Ich kann mich im letzten Moment fangen, aber bin noch eine ganze Weile wie geschockt. Mit einem Mal überkommt mich eine Mischung aus Respekt und Angst, was diese Küstenwege angeht. Zwar trennen mich hier noch einige Meter, einige Ginsterbüsche (und einige Ziegen) vom Meer, trotzdem lässt mich der Gedanke, nochmal ausrutschen zu können, nicht los. Und ich bin dem Barmann sehr, sehr dankbar, mich von der geplantem Umrundung abgehalten zu haben.

Ich laufe sehr viel achtsamer mein lehmiges, glitschiges Weglein entlang und bin heilfroh, dass der Abstand zum Meer immer einige Meter bleibt. Nach ein paar Minuten ist der höchste Punkt schon erreicht – und gibt fast überraschend den Blick auf den langen Sandstrand von Noja frei. Trotz des verhangenen Wetters beeindruckend und gewaltig.

Auch hier gönne ich mir sicher wieder eine halbe Stunde nur am Übergang vom Strand zum Meer. Es windet wild, die Wellen rauschen, und außer ein paar Spaziergängern mit Hund in weiter Ferne bin ich komplett allein. Von zu Hause habe ich ein kleines Metalldöschen mitgenommen mit Asche von Dingen, die ich für andere und für mich hinter mir lassen will, deren Schicksal ich ein Stück weit in die Hände von Gott zurückgeben will. Ich hatte mir dafür eine Steilküste vorgestellt, habe aber nun hier in dieser Einsamkeit und mit diesem rauen Wind das Gefühl, dass es ein guter Ort ist. Die Asche ist eigenwillig, der Wind bläst sie statt aufs Meer auf den Sand, aber nachdem das Ganze hier eh ein einziger Kreislauf ist, kommt es darauf wohl auch nicht mehr an.

Der Strand von Noja erdet mich einmal mehr.

Der Ort Noja selbst dagegen ist verwirrend. Wie die meisten Sommerurlaubsorte wirkt er im Moment wie ausgestorben, es hat mehr „se vende“-Schilder als sonst etwas. Und auch wenig gelbe Pfeile. Anstatt wie sonst schlafwandlerisch zielstrebig unterwegs, stehe ich hier alle paar Meter dumm in der Landschaft. Ich konsultiere meinen Führer, der aber heute Unmengen von Varianten erwähnt, die mich irgendwie verwirren. Ich kann keinen Satz im Kopf behalten und stehe an der nächsten Kreuzung schon wieder ratlos. Auf einem Platz bin ich komplett verloren, das ganze „leicht links“, dann wieder „scharf rechts“ könnte überall sein. Ich probiere sicher drei Varianten von leicht links und scharf rechts und werde schon sowas von gereizt und übellaunig, dass ich am liebsten in das höhnische Tourismusbüro stürmen und die mal zur Schnecke machen würde, warum sie nicht in der Lage sind, manierliche Pfeile anzubringen.

Glücklicherweise findet sich dann doch irgendwann ein Weg. An einer Kreuzung mache ich zur Gemütsberuhigung erstmal ein frühes Mittagspäuschen. Eigentlich hatte ich auf einen Supermarkt in Noja gehofft; nun dämmert mir, das sich meine Vorräte in Grenzen halten. Ich vertilge sämtliches Brot mit Schinken und habe für den Nachmittag nur noch ein paar Snacks. Zum Glück soll es in Güemes ja Abendessen und Frühstück geben.

Irgendwie ist heute der Wurm drin, auch nach Noja finde ich nicht zu meiner gewohnten Caminosicherheit zurück. Ständig taucht eine Kreuzung ohne wirkliche Pfeile auf. Naheliegenderweise könnte man einfach geradeaus weiterlaufen, aber heute verunsichert mich jede Kreuzung. Wenn ich dann doch geradeaus laufe und nicht nach ein paar Minuten ein gelber Pfeil auftaucht, bin ich am Zögern, Stehenbleiben und fast schon wieder Zurückgehen. Vielleicht habe ich ja doch einen offensichtlichen Abzweig einfach übersehen. Ich will schon wieder an einer Stelle zurückgehen, als mich eine Spanierin von ihrem Balkon fast schon anschreit, wo der Weg langgehen würde. Sie schimpft, dass hier immer Pilger rumstehen und den Weg nicht finden würden. Da, da, da, geradeaus. Ich laufe los, stehe an der nächsten Kreuzung ohne Pfeile dann doch wieder unschlüssig. Aus gut 100m Entfernung höre ich die Spanierin erst recht noch schimpfen, warum diese blöde Pilgerin jetzt nicht einfach geradeaus läuft, sondern immer noch zögert. Zufriedener ist sie mit dem Paulo Coelho- Verschnitt, der ohne eine Miene zu verziehen zielstrebig geradeaus läuft. Ich bin fast froh, nicht mehr ganz allein im Nichts zu sein. Wegen eines Fotos bleibe ich zurück, um beim Weiterlaufen dann geradeaus Paulo zu sehen, nach rechts aber endlich mal wieder einen dicken, gelben Pfeil. Ich pfeife und rufe, aber er hört nichts. Ich habe ein etwas schlechtes Gewissen.

Ich laufe reichlich entnervt kleine Weglein mit sporadischen Pfeilen und sehr viel Ungewissheit entlang und bin eigentlich gerade etwas versöhnt, als ein Auto neben mir hält und mich eine schüchterne, freundliche Frau drauf aufmerksam macht, dass ich falsch bin. Die gelben Pfeile wären irgendwie weiter hinten. Ich laufe wieder ein paar Meter zurück, finde aber auch nichts Schlaues. Ich beschließe, einfach mal zur der Kirche vor mir zu gehen, die hat ja auch die temperamentvolle Balkonspanierin als Fernziel gezeigt. Paulo mit seiner neongrünen Rucksackhülle sehe ich auf der Autostraße ähnlich verloren vermutlich den gleichen Plan verfolgen.

An der Kirche hat es endlich mal wieder einen heimeligen Pfeil, danach schreibt dann aber selbst mein Führer moderat ermutigend, dass es „weglos über die Wiese“ geht. Ich rege mich ziemlich auf, wie soll ich denn bitte einen weglosen Weg finden. Irgendwo leitet dann ein hübscher, gelber Holzpfeil mit „Santiago“ wirklich deutlich mitten in eine Wiese, in deren Grün schon Paulo steht. Ich habe ziemlich die Krise, was ist das heute für eine schnapsideeliche Ausschilderung.

Wir entscheiden uns zu einem Querfeldeinschlag zu einer Straße hin, und nach einer Viertelstunde präsentiere ich Paulo jubelnd einen Pfeil an einem Ortsschild. Ab da wird es wieder einen Hauch von besser (und es gibt einfach weniger Abzweigungen). Ich habe immer noch meinen Führer hin der Hand und wühle mich abwechselnd durch den variantenreichen Textdschungel und die Landkarte, die allerdings auch vor roten und rotgestrichelte Wegen wimmelt. Vermutlich kann man heute überall rumstehen und auf „dem“ Camino sein.

Mir brummt der Kopf vor lauter „wir gehen rechts und gleich wieder links (oder links und gleich wieder rechts)“, und ich bin heilfroh, dass sich der Variantendschungel langsam, aber sicher seinem Ende zuneigt. Ich mache eine weitere Stehpause und esse meine Vorräte komplett auf, selbst eine Packung Tuc-Kekse, die ich bestimmt schon seit über einer Woche mit mir herumschleppe. Jetzt muss dann wirklich irgendwann die Herberge kommen.

Sehnsuchts- und hoffnungsvoll betrachte ich jedes Haus in der Ferne und versuche mich damit anzufreunden, dass das die sagenumwobene Herberge von Güemes ist. Ausnahmsweise teile ich die kritische Grundhaltung von Maike, dass solche Wunderherbergen ihr etwas suspekt sind. Leider geht es ohne Herbergsschild an zahlreichen möglichen Herbergen vorbei (und mir kommt langsam schon der erschreckende Gedanke, dass ich vielleicht schon vorbei bin). Irgendwann kommt dann doch eine Kreuzung, an der sich der gelbe Caminopfeil und der gelbe Alberguepfeil trennen. An einem Brunnen tanke ich nochmal Wasser und Energie für den letzten Aufstieg.

Wenn das einzelne weiße Haus, auf das ich zusteuere, wirklich die Herberge ist, übertrifft es meine bisherigen ambitionierten Herbergsmutmaßungen wirklich. Kurz vorher betrete ich noch eine Weide mit einem Haflinger-Pony, welches sich wie eine Statue nicht von der Stelle rührt und mich nur beobachtet. Vermutlich lacht es sich innerlich halb tot, nachdem ich das zweite Gatter zum Verlassen der Weide nicht aufbekomme. Ich zerre und schiebe und schlage minutenlang an dem Riegel herum, der Mechanismus ist mir eigentlich klar, aber ich bin einfach zu schwach. Ich spiele schon mit dem Gedanken, einfach drüberzuklettern, als ein südländisch aussehender kleiner Mann aus der Herberge kommt und mir lachend bei dem Riegel hilft. Mir ist das ja reichlich peinlich, aber glücklicherweise muss selbst er ein paarmal probieren.

Dann stehe ich in dem riesigen Raum der Herberge, zur Linken hat es Sitzpolster für gut 50 Leute, und an einem großen Holztisch vor mir sitzen zu meiner moderaten Freude schon die Kanadierin und der lustige Spanier aus Castro Urdiales mit seinem umtriebigen Macho, der natürlich gleich wieder bellend an mir herumspringt. Aber Macho macht der Schlauheit der Bordercollies alle Ehre und erkennt nach wenigen Sekunden, dass er mich schon kennt (und bestimmt schon eine halbe Nacht beschnüffelt hat, uah). Auch die Kanadierin ist heute erstaunlich gelöst und freundlich. Beide sitzen vor einigen Tellern am Essen. Der Hospitalero fragt mich, ob ich schon gegessen hätte. Ich bin unentschlossen, denn eigentlich habe ich um halb 12 ja wirklich theoretisch Mittag gegessen. Die Kanadierin greift hilfsbereit in mein langes Schweigen ein; vermutlich denkt sie, dass ich kein Spanisch verstehe, denn sie übersetzt mir, ob ich „hungry“ wäre. Das kann ich nun mit gutem Gewissen mit eifrigem Nicken bestätigen. Ich soll mich hinsetzen und auf das Essen warten.

Die beiden beenden gerade eine Art Hühnersuppe, um sich einem riesigen Teller voller Linsensuppe zu widmen. Ich bekomme ebenfalls ein Schälchen Hühnersuppe, die eine völlig andere Kategorie wie das Süppchen im Kloster von Zenarruza ist. Die Linsensuppe sieht auch mehr als lecker aus, und ich hoffe inständig, dass ich so einen Teller auch noch bekomme. Vielleicht muss ich einfach noch ein bisschen hungriger aussehen. Es klappt, ich bekomme eine wunderbare, dunkelbraune Pampe, die die Kanadierin auch gleich mit der Gabel statt mit dem Löffel isst. Drin sind diverse Fleischstücke versteckt, und es ist alles in allem einfach göttlich.

Während der Hospitalero draußen den eh schon sauberen Eingangsbereich fegt, kommt ein älterer Mann mit wallender, weißer Lockenpracht hereingeschwebt. Anhand seiner Aura vermute ich spontan, dass es sich um den vielgepriesenen Padre Ernesto handelt. Dieser ist moderat überschäumend freundlich. Er begutachtet uns und konstatiert, dass wir essen. Und fragt, ob es denn gut wäre. Hm hm. Dann beschließt er, ein Foto von uns zu machen. Ich bin erst recht moderat begeistert, habe ich doch Fotos nicht übermäßig gern, und erst recht nicht, wenn ich eine halbe Scheibe Baguette in der Backe habe. Ich darf das Resultat auf der Kamera begutachten, was soll ich dazu sagen. Ich sehe aus wie eine abgekämpfte Pilgerin mit Matschfrisur und Brot in der Backe. Meinen mäßigen Enthusiasmus deutet er dahingehend, dass er noch ein paar weitere Bilder von mir beim Essen machen soll. Hilfe. Eines seiner Werke entlockt seinem regungslosen Gesicht dann aber direkt einen Hauch von wohlwollendem Lächeln. Er tätschelt mir die Schulter und schlurft wieder hinaus. Ich bin etwas verunsichert.

Ein lustiger Mann mittleren Alters mit einem riesigen Hund kommt zu Besuch. Mein erster Gedanke bezüglich des Hundes ist „kalbsgroß“, aber selbst das wäre untertrieben. Das Tier sieht aus wie eine Mischung aus Golden Retriever und einer ausgewachsenen Kuh- und ist noch ein ganz kleiner, noch nicht einmal ein Jahr, wie der Spanier lachend erklärt. Er lacht sich erst recht halb tot, als ich frage, ob er denn noch größer wird, ja, und wie. Ich frage, ob er ein großes Haus hätte. Er lacht und meint, ja, und macht eine weitausholende Geste über die Herberge. Vom Temperament hat das gute Hundchen viel von der Kuhlinie geerbt, trotz Größe habe ich nicht einmal wie üblich Angst. Was allerdings gar nicht geht, ist die Zusammenführung mit Macho. Beide jungen Männchen bekläffen sich wie wild (wobei einem bei dem Kalb schier die Ohren abfallen). Sämtliche Erklärungen und erzieherischen Maßnahmen der Herrchen schlagen fehl, das Kalb muss zur Wahrung des Lärmpegels vor die Tür. Dort tröstet ihn sein Herrchen, indem er sich zu ihm auf den Boden kniet. Auf gleicher Kopfhöhe schlabbert ihm der Hund dann mit seiner riesigen Zunge sabbernd quer durchs Gesicht – und das Herrchen lacht sich dabei wie üblich glücklich halb tot.

Nachdem wir (bzw. aktuell ich) fertiggegessen haben, dürfen wir bei einer lateinamerikanisch anmutenden jungen Frau einchecken und werden dann vom Hospitalero zu den Schlafräumen geleitet. Ich bin überaus erleichtert, dass Macho ein Extrazimmer im Erdgeschoss bekommt und die Kanadierin gleich mit dort logieren will. Ich werde eine Etage höher geführt, wo mir sofort wieder die Mail von Patrick in den Sinn kommt, dass ich unbedingt nach Güemes müsste und die dreistöckigen Betten sehen. Nachdem mich die letzten dreistöckigen Betten in Deba nicht direkt mit grenzenlosem Enthusiasmus erfüllt haben, habe ich keine allzu hohen Erwartungen.

Das Zimmer hier ist aber der Hammer, es hat endlos viel Platz, die Matratzen sind hübsch blau überzogen, und die Art von Stockbetten erinnert mich an einen Kindheitstraum von einem Heuschober, bei dem man von hohen Holzbalken springen kann. Ich liebäugle wirklich mit dem obersten Stockbett, entscheide mich dann angesichts meines vielen Krimskrams aber doch für ein ebenerdiges. Bzw. eigentlich belege ich gleich zwei. Irgendwie sind die liebevoll angefertigten Einbaubetten nicht für Pilger über 180 cm konzipiert.

Während Machos Herrchen fröhlich am Duschen ist, macht Macho derweil die Damenwaschräume unsicher und stellt sich höchst begeistert daneben, als ich Wäsche waschen will. Ich lasse gerade heißes Wasser mit Duschgel in die riesigen Waschbecken, als er mir schier hineinspringt. Ich habe es nicht so mit Hundekommunikation. Er lauscht zwar gespannt meinen Ausführungen, dass das gar nicht gut für ihn zum Trinken ist, springt aber sofort wieder nach dem Wasserhahn, sobald ich das Wasser wieder andrehe. Ich verschiebe das Unternehmen Wäschewaschen zugunsten von Macho Wässern. An einem zweiten Hahn mit kaltem Wasser überbrücke ich mit beiden Händen so weit, dass Macho auf zwei Beinen und sehr langer Zunge schlabbernd zu seinem Getränk kommt. Ich bin sehr dankbar, dass er mich nicht irgendwie beißt, in den Trog springt und auch soweit durstgestillt ist, bevor mir von dem kalten Wasser die Hände abfrieren.

Die Herberge füllt sich nun schlagartig. Außer dem älteren, spanischen Paar trifft Kathrin ein sowie Chrissie und Maike. Ich habe wohl Glück gehabt, gerade noch zur erweiterten Mittagessenszeit (gegen 16.00) eingetroffen zu sein, für die aktuellen Neuankömmlinge gibt es nur noch Kekse. Die beiden Spanier logieren ebenfalls in meinem Zimmer, und wie sich herausstellt, sind sie heute morgen mit der Fähre gefahren. Ich bin überrascht, dass sie nun doch gefahren ist. Sie bestätigen, dass die Touristeninformation gesagt hätte, dass nicht, aber sie hätten irgendwo angerufen. Und den positiven Bescheid auch Miguel gestern am frühen Abend noch mitgeteilt. Dieser hätte mit ihnen dann auch ganz brav die erste Fähre um 9 genommen. Ich bin etwas sprachlos. Zum einen ärgere ich mich grün und blau, nun die schöne Fährüberfahrt verpasst zu haben (und ganz umsonst ein weiteres Mal gemogelt zu haben), zum anderen bin ich ungläubig wütend auf Miguel, der demnach gestern Abend definitiv schon wusste, dass doch eine Fähre fahren würde. Ich bekomme das Ganze digital nachgezeigt. Plötzlich kommt mir auch ein schlechtes Gewissen bezüglich der beiden Schwaben, ich hoffe, dass sie auch auf der Fähre waren und nun nicht wegen meiner Fehlinformation auch den Bus genommen haben. Nein, die wären nicht auf der Fähre gewesen, nur der Deutsche, so ein älterer mit einem charakteristischen Gang, und eben diese Deutsche mit dem Hund. Lauter Deutsche, die ich beim besten Willen noch nie gesehen habe.

Vor den Waschräumen läuft mir dann zumindest besagter Hund entgegen, zu meiner Erleichterung guckt er genauso verunsichert wie ich. Die Frau, die danach um die Ecke kommt, lacht herzlich, als ich konstatiere, dass sie dann wohl die Deutsche mit Hund wäre. Deutsch wäre sie, aber als „die Deutsche mit Hund“ geht eine andere durch.

Ich bin ziemlich angetan von diesem unerwarteten Pilgertrubel und setze mich in dem großen Raum abwartend an einen wunderbaren, offenen Kamin, während Miguel und Paulo eintreffen sowie sehr spät die Koreanerin, die ja eigentlich schon gestern nur 20 km laufen wollte. Ich bin fröhlich begeistert. Sie guckt mich an, macht eine halsabschneidende Handbewegung und krächzt tonlos „I am dead!“. Dead, aber extrem beachtlich am Laufen.

Ich flechte mein zweites Bändel, während mich das offene Feuer toll durchwärmt. Der Mann mit Hund schaut alle Viertelstunde nach dem Rechten, legt tonnenweise Holz nach und unterhält alle strahlend lachend. Auch der Weißhaarige kommt ab und zu vorbei, allerdings verzieht er meist keine Miene, was mich wie üblich etwas verunsichert. Kathrin belehrt mich, dass der Mann mit Hund Padre Ernesto wäre. Ich favorisiere intuitiv definitiv den Weißhaarigen, aber jeder Pilger hat eine andere Theorie. Dafür halte ich den Mann mit Hund intuitiv für den Sohn des Padre. Glücklicherweise behalte ich diese Intuition für mich. Ein paar Momente später dämmert mir, dass diese Idee nicht allzu intelligent ist in Anbetracht der Tatsache, dass der Padre ja ein katholischer Priester ist.

Ich knüpfe vor mich hin, während ich den interessanten (rein deutschen) Konversationen rund um das Kaminfeuer lausche. Die besagten Deutschen sind nun auch eingetroffen. Die Besitzerin der schüchternen Hündin, die eine Mischung aus Husky und Wolf oder Fuchs zu sein scheint, hat sich wohnungslos auf die Reise gemacht, nachdem sie vor ein paar Jahren schon einmal mit einem VW-Bus durch die Welt gereist ist. Momentan tun ihr die Füße weh, ihr Rucksack samt Zelt ist viel zu schwer, und eigentlich wollte sie eh auf den Hauptweg. Allerdings haben sich nach der Zugfahrt nach Spanien die Busfahrer geweigert, ihren Hund zu transportieren. So ist sie kurzentschlossen auf dem Camino del Norte geblieben. Während sie recht verzweifelt wirkt, ist ihre temporäre Weggefährtin ein quasselnder und sprudelnder Jungbrunnen. In wildestem bayrisch-hessischen Dialekt legt sie uns fröhlich plappernd ihr halbes Leben dar, unter anderem, dass sie letztes Jahr überraschend ihren Mann verloren hat und dann so durch den Wind war, dass gar nichts mehr ging. Sie ist dann den Camino Frances gelaufen, und der hätte sie so wunderbar gestärkt, dass sie jetzt einfach nochmal zurückkommen musste. Wunderbar gestärkt und voller positiver Energien wirkt sie wirklich. Ich bin mechanisch vor mich hinknüpfend fasziniert, zum einen von dieser Lebensfreude, zum anderen von dieser Offenheit. Mir wird bewusst, wie meilenweit ich von so etwas entfernt bin. Wie auch jetzt hülle ich mich meistens in ein schüchtern lächelndes Schweigen. Jede weitere Chrissie in meinem Leben macht mir nur noch deutlicher bewusst, dass meine Motivation nicht jeder versteht. Erklären kann ich sie schwer – und ich will es auch einfach nicht.

So bin ich dann doch etwas überrascht, dass der ältere Deutsche, der neben mir sitzt, allein durch sein stilles Sitzen irgendwie meinen Schutzwall zu durchdringen vermag. Er erzählt mir von seinen Pilgererfahrungen, und ich bin erstaunlich offen und fühle mich wohl. Zwischen seinen einfachen Sätze schwingt recht viel „Pilger“ mit, sodass ich mit einer einfachen Bejahung und einem zustimmenden Lächeln viel von meiner Pilgermotivation teilen kann. Vielleicht fühle ich mich auch deswegen so wohl, weil ich hier zum ersten Mal auf erfahrene Pilger stoße, bzw. einfach Menschen, die schon mal etwas von der Faszination des Caminos erlebt haben und nicht nur den schönen Weg genießen. Beziehungsweise ich bin sicher, dass die wunderbare Herberge einen großen Teil dazu beiträgt, denn aus ihr strömt mit jedem Detail, mit jedem wärmenden Holzscheit, liebevoll geschreinerten Bett, leckeren Essen, mit jedem ruhigen Pferd, kalbsgroßen Hund, lachenden Mann, umsorgenden Hospitalero und Padre einfach ganz, ganz viel Camino. Wunderbar, bewegend und magisch, nun doch noch.

Um 8 werden wir in die Bibliothek gebeten, wo wir erst um einen Tisch sitzen und Stapel von laminierten Fotos anschauen. Manche zeigen Gruppen, manche völlig durchschnittliche Pilger mit einer kurzen Geschichte, manche beeindruckende Pilger. Mich berühren die Collagen über Langstreckenpilger mit vielen tausend Kilometern in den Beinen, Familien mit kleinen Kindern und eine afrikanische Frau mit lustigen Perlenzöpfchen. Etwas weniger wohlig wird mir bei der Vorstellung, dass der Padre nächste Woche eifrig eine ähnliche Collage bastelt mit einer zerzausten Pilgerin mit Hamsterbacken und Baguettekrümeln beim Suppe-Essen.

Danach sollen wir uns alle vor einer Landkarte versammeln. Padre Ernesto kündigt uns für die nächste Stunde einen Vortrag an über den Camino, die Strecken, die wir vor und hinter uns haben, sowie über die Herberge und ihre Geschichte. Die Kanadierin macht die Übersetzerin. Wir lernen über die karitativen Projekte und die Hilfe von zahllosen Freiwilligen in dieser Herberge, allein 70 Leute aus der Umgebung helfen lachend und strahlend. Der Padre beleuchtet kritisch die Gefahren des Eukalyptusanbaus und der vielen Straßen sowie des Sommertourismus. Die Kanadierin übersetzt sehr talentiert und lustig, zumal der Padre sich manchmal minutenlang in seinen Gedanken verliert und die Arme vermutlich ein ganz rotierendes Hirn bekommt. Nachdem ich sowohl sein Spanisch als auch ihre englische Übersetzung verstehe, erhalte ich auch Einblicke in ihre ähnlich sorgsam versteckte Pilgermotivation. Manchmal dichtet sie strahlend einen Caminoenthusiasmus dazu, den der Padre so gar nicht erwähnt hat.

Ich bin komplett fasziniert von der Ausstrahlung von Padre Ernesto. Im Gegensatz zu dem strahlenden Umarmungsmönch von Zenarruza ist er weit weniger herzlich und verzieht auch nie eine Miene zu einem Lächeln. Uns wird fast schon ein wenig unwohl, als er mit versteinerter Miene erklärt, dass diese Herberge nun wirklich keine Pilgerherberge wäre, schon seit 100 Jahren bestehen würde und der erste Pilger gerade einmal vor 13 Jahren hier aufgetaucht wäre. Sie wäre offen für alle Arten von Menschen und Gruppen und Interessensgemeinschaften. Das stolze und glückliche Pilgerkollektiv schaut etwas eingeschüchtert und bedröppelt aus der Wäsche.

Danach erklärt er uns noch die kommenden Etappen. Morgen hätte es zwei Wegalternativen, die wir aber beide nicht nehmen sollten, sondern einen kleinen Umweg direkt an der Küste entlang. Wir nicken alle sehr ernsthaft und versuchen, uns die entsprechenden Abzweigungen zu merken. Fernab der Markierungen zu laufen gehört zwar definitiv nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, Steilküste 70 m über dem Meer ist aber definitiv mein Ding. Und sein Umweg sieht auf der Karte auch wirklich idiotensicher aus. Die Etappe einen Tag später mit über 45 km entschärft er auch gleich, es gäbe eine gangbare Abkürzung, bei der man gleich 5 km sparen könnte, indem man verbotenerweise über eine Eisenbahnbrücke geht. (Ich bin mal wieder so beeindruckend informiert, dass ich von dieser beunruhigend langen Etappe gar nichts weiß.) Die ganz Schlauen würden warten, bis der Vorortzug alle 20 Minuten durch wäre – und die ganz Ängstlichen würden einfach direkt den Vorortzug nehmen. Da hebt sich selbst beim Padre für ein paar Sekunden ein Mundwinkel.

Um 9 geht es dann endlich in den Speisesaal. Die erste Suppe kenne ich in ähnlicher Form schon, danach gibt es noch einen leckeren Kartoffeleintopf. Wir bekommen die kolumbianische Köchin, ihren Bruder und ihren Mann vorgestellt, die aktuellen guten Seelen der Herberge. Padre Ernesto erzählt zwischendurch von seinen Arbeitseinsätzen in den Fabriken und Minen Lateinamerikas, alles ist einfach zutiefst beeindruckend.

Mir gegenüber sitzt ein Mann, der mir erst nach der Bibliotheksstunde aufgefallen ist und der kein Pilger zu sein scheint. Irgendwie erinnert er mich an den zu groß geratenen Hund. Er ist auch riesengroß, ohne wirklich beängstigend zu wirken. Aktuell wirkt er ein wenig unbeholfen in unserer Pilgermeute, die ja größtenteils auch noch munter deutsch plaudert. Nachdem er sich das Essen über gepflegt auf Englisch mit der in England lebenden Kathrin unterhalten hat, stehe anschließend ich auf dem Programm. Er kommt aus Salamanca, was mich natürlich sofort in Via de la Plata-Verzückung versetzt. Zu meiner Enttäuschung ist er als guter Spanier aber weder die Via noch sonst irgendeinen Camino jemals gepilgert. Wir kommen auf Berufe zu sprechen, er ist Musiker, Pianist, um genau zu sein. Das haut mich ziemlich vom Hocker, irgendwie hätte ich seinem Erscheinungsbild und seinen riesigen Pranken eher Schlachter oder Holzfäller zugeordnet. Während er bei näherer Betrachtung nicht einfach nur unwohl, sondern auch ziemlich traurig aussieht, bekommen seine Augen ein unglaubliches Strahlen, wenn er von einem Klavier spricht. Ich frage, ob er denn auch privat gern spielt, wenn er es doch den ganzen Tag schon beruflich macht. Natürlich, er strahlt, jede freie Minute. Es wäre seine Passion. Ich bin beeindruckt und nachdenklich. Nichts gegen meinen Job, aber derart begeistert könnte ich wohl höchstens den Camino als meine Passion bezeichnen. Wir unterhalten uns rein auf Spanisch, was mal wieder davon erschwert wird, dass ich es nie richtig gelernt habe. Noch dazu nuschelt der Herr Pianist für seinen Größe ziemlich schüchtern vor sich hin. Ich versuche zu rekonstruieren, ob er nun also in Salamanca Klavier spielt. Nein, er wäre Pianist auf den kanarischen Inseln gewesen. Ich bin etwas verwirrt und verstehe nicht, warum er nicht mehr Klavier spielt, wenn es doch so seine Passion ist. Ich mutmaße Geld- oder Stellenmangel, nein, nein. Ich frage immer weiter und verstehe immer weniger. Seine genuschelte Begründung verstehe ich auch ewig nicht, bis er mir die fünften Wiederholung schon fast entgegenbrüllt. „Chica“ verstehe ich dann sogar mit meinem rudimentären Spanisch. Seine gute Angebetete findet Pianist keinen manierlichen Beruf, und nachdem sie in England lebt, ist er mit Salamanca dann in eine mittlere Nähe gezogen. So ganz sympathisch ist mir so ein Drache, der ihm sein geliebtes Klavier verbietet, nun nicht gerade, aber wenigstens habe ich die komplizierten Zusammenhänge endlich verstanden. Ich schließe, dass sie demnach jetzt zusammen in der goldenen Mitte von England und kanarischen Inseln in Salamanca leben, und frage, ob er nun hier auf Urlaub ist. Nein, er würde hier in der Nähe wohnen, nur ein paar Kilometer weg. Und nachdem er mit dem Padre irgendwie verwandt ist, kommt er hier abends oft zum Essen (was ich sehr gut verstehen kann). Wieso er jetzt hier und nicht in Salamanca wohnt, verstehe ich dagegen schon wieder rein gar nicht. Auch akustisch und Spanisch stehe ich schon wieder auf dem Schlauch, sodass er mir auch schon wieder quer über den Tisch „no hay chica!“ entgegenbrüllen muss. Das zieht mir jetzt (obwohl ich ihn eigentlich nicht kenne) den Boden unter den Füßen weg. Die Lady hat ihn nicht nur umziehen und Beruf wechseln lassen, sondern ihn dann nach drei Jahren auch noch verlassen. So wunderschön begeistert, wie seine Augen strahlen können, können sie nun auch zu Boden zerstört und enttäuscht schauen. Mit einem Mal verstehe ich seinen rundum traurigen Gesamteindruck, und es berührt einfach kolossal mein Herz.

Wir haben plötzlich eine gewisse Herzverbindung, und unser anschließendes Gespräch über Berufe, Passionen, Caminos und Suchen im Leben ist beeindruckend. Nicht nur, dass wir uns ohne jemals nochmal nachfragen zu müssen und ohne, dass ich jemals nach Worten suchen müsste, in einer Sprache unterhalten, die ich eigentlich gar nicht kann. Ich kann plötzlich ohne jegliche Vorsichtswälle über meine Caminobegeisterung, meine Zweifel und Suchen reden. Er lächelt dazu verstehend mit seinen traurigen Augen. Mir zerfließt das Herz, wenn er von seiner Klavierbegeisterung erzählt, und er versteht jeden meiner verrückten Caminogedanken.

Diese Herberge hat definitiv etwas ganz und gar Besonderes. Ich schaffe es über eine Woche nicht, jemandem auch nur zu erzählen, dass ich schon einmal einen Camino gelaufen bin. Und kann mich bei dem einzigen Menschen weit und breit verstanden fühlen, der noch nie auch nur einen Schritt als Pilger gemacht hat.

Die Nacht ist gelinde gesagt ein Horror. Im Bett neben mir liegt der Spanier, der auch am Abend schon recht viel vor sich hingeredet hat. Er redet auch die halbe Nacht im Schlaf – und in was für einer Lautstärke! Noch dazu kläfft alle halbe Stunde Macho. Freilaufende Hunde in der Nacht sind rein gar nicht mein Ding.

Während mir sonst die Ohrstöpsel im Lauf der Nacht aus dem Ohr fallen und ich beim ersten Rascheln wach werde, habe ich sie mir diese Nacht in Anbetracht der Geräuschkulisse wohl etwas zu tief ins Ohr geschoben – ich werde erst wach, als alles um mich herum schon am Packen ist. Eigentlich muss ich ja nirgends zeitig ankommen und bin eh nicht schnell, trotzdem gehe ich ungern als letzte los.

Vor der Herberge treffe ich das Paar, welches ich gestern auf dem Camino von weitem gesehen habe. Ich bin überrascht, wo sie herkommen. Ihnen geht es ähnlich. Sie hätten bei der Polizei gefragt, wo denn die Herberge wäre und die Auskunft bekommen, dass es keine Herberge gäbe. Entsprechend sind sie nun etwas konsterniert, dass Pilger um Pilger aus der kleinen, gelben Herberge kommt.

Wie auch gestern ist das Wetter heute regnerisch trüb. Die kleine Kanadierin überholt mich wortlos. Sie ist vermutlich halb so groß wie ich, hat aber eine mindestens doppelt so hohe Schrittfrequenz. Und wir können uns wohl beide nicht so recht leiden. Sie weiß einfach alles und hat zu allem etwas zu sagen. Spätestens ihr morgendliches Gequake, wieso ich ohne Frühstück starte, hat mir den Rest gegeben. Ich versuche, in mich hineinzuhören, was genau mich stört. Vielleicht sind wir uns letztlich einfach zu ähnlich.

Eine weitere Eingebung vernehme ich von jenseits meines arbeitenden Verstandzentrums: eine grundlegende Entscheidung über die Art meines Caminos. Auch heute gibt es wieder die Möglichkeit, mit der Fahrstraße abzukürzen. Mein Führer sagt offiziell 32 km bis Laredo, auf dem Wegzeiger stehen dagegen 37 km. Die Abkürzung mit 25 km wirkt eigentlich denkbar vernünftiger. Ich habe gestern mit Maike die Wegalternativen begutachtet, und sie hat sich sehr selbstverständlich ein weiteres Mal für die Fahrstraße entschieden – ihre Beine sind ein bisschen am Ziepen, da scheint ihr das vernünftiger. Geradlinige Denkweise. Meine Beine ziepen auch, aber vor allem bin ich mir sehr sicher, dass ich ab jetzt wieder normal den Camino laufen will. Ich habe die Metro genommen, um eine Übernachtung zu finden, und ich habe gestern abgekürzt, um die lange Etappe und einen Tag Vorsprung herauszuarbeiten. Aber von nun an muss es einfach passen. Keine Abkürzungen mehr. Ab jetzt sollte ich die Etappen schaffen, und wenn nicht, dann gehe ich einfach nicht bis Llanes. Je mehr ich überhaupt mit den Gedanken an Abkürzungen spiele, desto mehr schwindet sonst mein Pilgergefühl.

Durch meinen späten Start heute laufe ich die erste Zeit in einem ungewohnten Pulk, alle 50 m läuft ein Pilger. Ich denke fast etwas sehnsüchtig an die ersten Tage zurück. Pause mitten auf dem Weg machen und für Fotos an die unmöglichsten Stellen turnen, ohne ständig freundlich grüßen oder smalltalken und kommentieren zu müssen.So fotografiere ich heute mit der Koreanerin begeistert Ziegen, lasse mir von dem spanischen Pärchen ein verirrtes Pferd vom Weg schieben und erhalte ein mystisches, regungsloses Nicken vom Paulo Coelho-Verschnitt, der eines meiner Fotomotive gutzuheißen scheint.

Einerseits ist es ein bisschen schade, dass vor lauter Wolken auch das Meer ein recht unspektakuläres Dunkelgraublau aufweist; andererseits sind die kurzen Momente von Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke dadurch ein viel größeres Geschenk.

Ich lasse das ganze hektische Pilgertreiben passieren und verfalle dann wieder ungestört in meinen ultralangsamen Trott und laufe verträumt durch Weiden, Wälder und am Wasser entlang. Ohne zu zögern schlage ich auch den Originalweg ein, als der Abzweig zur Nationalstraße in Sicht kommt. Überraschenderweise taucht irgendwann in einem kleinen Örtchen ein Supermarkt auf (noch stilvoll mit einer „feliz navidad“-Leuchtreklame dekoriert), sodass sich mein Proviant unverhofft etwas verführerischer upgraden lässt. Ich will gerade schon wieder loslaufen, als ich Maike und Chrissie in die Arme laufe, kurz darauf läuft auch die Koreanerin vorbei. Angesichts der Tatsache, dass Maike die kurze Strecke nehmen wollte und die Koreanerin immer so um die 20 km läuft, bin ich etwas irritiert. Sie haben den Abzweig übersehen und laufen nun wohl oder übel die lange Strecke. Chrissie kämpft mit einem Navigationssystem, welches sie von ihrem österreichischen Pilgerverein mitbekommen hat zur Überprüfung der korrekten GPS-Daten. Immer, wenn sie einen bewussten Umweg macht oder sich verläuft, muss sie es hinterher eintragen. Der Schnörkel durch die Ladenregale wird somit auch gewissenhaft markiert, um nicht unnötige Verwirrung zu stiften.

Die nächsten Stunden überholen wir uns immer wieder gegenseitig. Ich laufe deutlich langsamer, mache aber vermutlich weniger ausgiebige Pausen. Chrissie hat ganz professionell eine Isomatte dabei, nur um sich bei Pausen darauf zu setzen. Ich bin etwas nachdenklich bezüglich meiner Einzelkämpfer-Einstellung. Theoretisch könnten wir vermutlich ein lustiges Dreierteam bilden, aber irgendetwas lässt mich immer in einer freundlichen Abwehrhaltung verharren. Kaum, dass wir uns treffen, verabschiede ich mich auch schon wieder „bis später“. Die beiden finden die langen Etappen etwas ermüdend und die Konversation derweil durchaus zeitvertreibend. Ermüdung stellt sich bei mir bisweilen auch ein, allerdings sind diese Momente erfahrungsgemäß recht bereichernd und interessant, und unbedingt den ganzen Tag fröhlich verplappern möchte ich gar nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, was ich eigentlich will, auch nach recht vielen Caminos noch nicht.

Ein weiteres Mal überhole ich meine beiden Weggefährtinnen, die recht optimistisch vor dunklen Wolken picknicken. In einem Eukalyptuswald verliere ich für einen Moment die Wegführung. Auf einer großen Lichtung ist rein alles abgeholzt, sodass an den Verzweigungen keine Chance auf einen gelben Pfeil mehr besteht. Glücklicherweise arbeiten zwei einsame Waldarbeiter auf der Lichtung, die nichts Spannenderes zu tun haben, als den wenigen Pilgern nachzuschauen. Als ich mich irgendwann etwas hilfesuchend umdrehe, sind sie demzufolge auch schon voll im Bilde und wedeln mir die richtige Richtung.

Nach dem Wäldchen ergibt sich plötzlich ein atemberaubender Blick in ein weites Tal voller unterschiedlicher Grünschattierungen. Bis auf einige kleine Höfe grüne Hügel, soweit das Auge reicht, unterbrochen von einigen rauen, grauen Felsen. Die Landschaft erinnert mich an „Herr der Ringe“ und ist trotz oder gerade wegen den dunklen Wolken von einer ergreifenden Schönheit, die sich allerdings leider nicht wirklich auf meinen Foto bannen lassen will.

Ein ganz feiner Nieselregen setzt ein, sodass ich meine wunderbaren Supermarkteinkäufe in Form eines Vanillecreme-Blätterteigstückchens und einer Birne mal wieder im Laufen esse.

Ich bin fast etwas reumütig, diese wunderbare Atmosphäre hinter mir zu lassen. Im nächsten Örtchen gönne ich mir zum Nachspüren eine ausgiebigere Essenspause und lüfte meine Füße. Die heutige Etappe ist ja doch auch wieder etwas länger, und vor allem bei regnerischem Wetter neige ich zu stundenlangem Laufen ohne Pause. Ich bin gerade mittendrin im Vorrätedezimieren, als Chrissie und Maike auftauchen. Eigentlich haben sie ja schon vor einer Stunde ausgiebig gecampt, aber sie setzen sich doch nochmal auf meine etwas fragile Bank. Ich bin fast ein bisschen erleichtert, dass wir nicht zum zehnten Mal grüßend aneinander vorbeirauschen. Chrissie findet meine Wanderstiefel so kultig, diesen Retrostyle, diese uralten Lederschuhe. Ich bin etwas irritiert. Aus braunem Leder sind sie wirklich, aber das mit dem uralt ist eher relativ. Vor 2 Jahren standen sie noch brandneu in einem Schuhladen, und ich neige vermutlich einfach nicht zu einem allzu pfleglichen Umgang. Aktuell habe ich nicht nur ein schlechtes Gewissen meinen oft vernachlässigten Beinen und Füßen gegenüber, sondern auch meinen Stiefeln, die mich Camino um Camino treu und blasenfrei tragen, deren Leder ich aber noch nie auch nur irgendwie gepflegt habe. Vermutlich müsste ich dazu erstmal viele Schichten von zarter Camino del Norte- Dreckbrühe, trockenem Camino Frances-Staub und fiesem, hartnäckigem Via de la Plata-Matsch abtragen.

Wir laufen einträchtig gemeinsam weiter, ich gebe mir Mühe, nicht wieder in meinen Schleichtrott zu verfallen. Chrissie möchte einen Kaffee trinken gehen, aber erst im nächsten Ort. Dieser lässt auf sich warten, und nachdem es danach noch eine Stunde bis Laredo sein soll, bin ich zurückhaltend begeistert ob meiner heutigen, bis dahin problemlosen Verfassung. Irgendwann taucht in der Ferne ein Ort auf, der Laredo sein könnte. Ich bin skeptisch, das wäre doch etwas früh; ich fürchte, dass es erst Hazas ist. Es ist aber wirklich schon Laredo, den geplanten Kaffeeort für Chrissie haben wir irgendwie einfach überlaufen. Ich bin überrascht, wie schnell diese Etappe verflogen ist. Mit Blick auf die Uhr ist es allerdings wirklich auch schon fast 17.00.

Auf der Suche nach der Herberge konsultieren wir dann doch unseren Führer. Ich lese immer gern den Text, während Chrissie recht optimistisch nach der Karte geht (die auf einer Seite die ganze Etappe zeigt und daher nicht allzu feingliedrig ist). Wir sind schon an den beiden Herbergen vorbei, fragen wieder munter die Einheimischen und werden wieder zurückgeschickt. Während ich interessiert begeistert irgendwelchen Straßen folge, bleibt Chrissie mittlerweile schon an der Hauptstraße stehen und setzt sich erst wieder in Bewegung, nachdem wir wirklich die Herberge gefunden haben und aufmunternd winken. Die Kombination aus langer Etappe und fehlendem Kaffee setzt ihr etwas zu.

Wir stehen vor einer verschlossenen Tür mit Sprechanlage, und zum Glück haben wir Maike mit ihrem lupenreinen Spanisch, die sehr wortgewandt uns drei Pilgerinnen ankündigt. Wir bekommen aufgesummt und stehen in einem etwas beklemmenden Empfangsraum aus blitzendem, dunklen Holz voller Jesusstatuen (schließlich ist es eine von Franziskanerinnen geführte Herberge). Alles ist etwas zu sauber und edel, als dass wir uns lehmverschmiert und etwas abgekämpft so richtig zu Hause fühlen würden. Mit dem Aufzug kommt eine kleine Frau angefahren, die uns anschaut, erschreckt „drei Pilgerinnen?!“ stammelt und gleich wieder entschuldigend im Aufzug verschwindet. Wir warten weiter etwas verunsichert, bis eine weitere kleine Frau uns resolut erklärt, dass es für Pilger nur noch ein Vierbettzimmer hätte und da nun eben bereits ein Mann drin logiert. Intuitiv vermute ich, dass es sich um Miguel handelt und versichere, dass wir ihn vermutlich eh kennen und das schon okay ist.

Wir quetschen uns zu viert in den winzigen Aufzug. Maike entschuldigt sich höflich scherzend für unseren Pilgergeruch . Die kleine Dame meint etwas säuerlich, das wäre halt immer so. Es geht durch dunkle, enge Gänge zu einem Zimmer, in dem wirklich erwartungsgemäß Miguel logiert. Er sieht moderat begeistert von der Invasion deutschsprechender Chicas aus. Die kleine Spanierin erklärt uns stolz und geschäftig jede Einzelheit des Zimmers, während die müde und gereizte Chrissie schier aus den Latschen kippt. Wir bekommen eine Führung zu den Waschräumen und zur Küche. Da nur Maike schön Spanisch spricht, bekommt sie alles erklärt und lächelt zu allem auch sehr geduldig und höflich. Ich breche irgendwann in prustendes Lachen aus, als sie uns bereits 5 Minuten erklärt, dass und wie wir Spaghetti kochen können. Ich rette mich in einen missglückten Hustenanfall.

Wie die Betreuung, so ist auch der Raum ein Hauch von „too much“ und Betüttelung. Die Bettüberwürfe sind rosenverziert, überall stehen kleine, putzige Kinderstühlchen, und in Anbetracht der Wanddekoration kann ich mir gedanklich ein kindisches Spiel nicht verkneifen, bei dem man möglichst viele Kreuze oder Jesusbilder zählen muss.

Wie üblich schaltet mein Körper nach einem langen Tag in einen „letzte- Reserven- mobilisier- Modus“, der mich adrenalingeladen Richtung Supermarkt treibt. Mein fröhlich motivierter Vorschlag, schon mal geschwind einkaufen zu gehen und den beiden Damen den Vortritt mit Duschen zu lassen, erntet ein ziemlich bissiges „darf ich mich vorher noch 5 Minuten hinsetzen?!“ von Chrissie. Sie ist wohl wirklich müde.

Ich erstehe wieder gefühlte 5 kg Fressalien, unter anderem eine Tiefkühlgemüsepfanne mit Crevetten, wenn es denn schon mal eine Kochgelegenheit gibt. Maike und Chrissie wollen nach dem langen Tag schön essen gehen. Zurück in der Herberge dusche ich in einem leicht erdrückenden Badezimmer. Glücklicherweise hat es diesmal keinen Jesus, dafür einen Haufen Porzellanblüten und Porzellanvögelchen.

Die Damen betreiben frischgeduscht fröhliche Blasenpflege. Chrissie hat einen Flachmann mit einem Kräuterschnaps dabei, den sie sich pauschal desinfizierenderweise über den Fuß gießt. Dass sie dabei die Überdecke gleich noch mit einem großen, hellbraunen Fleck verziert, kommentiert sie ungerührt damit, dass die hier für die horrenden 13 Euro ja ruhig auch etwas zu waschen haben können. Wie so oft trennen uns auch hier wieder grundlegende Einstellungen, die mich resignieren lassen.

Maike schlägt vor, dass wir ja zusammen kochen könnten. In Anbetracht der Küche haben sie wohl doch umdisponiert. Ich finde es soweit eine gute Idee, allerdings offenbart mir ein Blick in den Führer eine Messe um 20.00. Die Aussicht auf singende Nonnen hat eine magische Anziehungskraft auf mich, und auch generell verspüre ich ein gewisses Bedürfnis, meinen Camino kirchennäher zu gestalten. Auf dem Hauptweg war die abendliche Misa fast eine Selbstverständlichkeit und meist ein erhebender Abschluss einen intensiven Tages. Hier fühle ich Gott bisher sehr selten und müsste dem wohl auch einfach mehr Raum geben.

So bin ich etwas hin- und hergerissen zwischen geselligem Abendessen und der Misa. Ich entscheide mich für letzteres. Vermutlich denken sich die beiden ihren Teil. Vermutlich finden sie mich eh schon einen etwas seltsamen Vogel, dass ich so gern den ganzen Tag allein bin. Und dann noch der Glaube, spätestens Chrissie scheint das höchst, höchst suspekt zu finden.

Ganz entspannt ist mein Kochen und Essen nicht wirklich, die Zeit läuft mir davon. In der blitzsauberen Küche voller Häkeldecken und Porzellanschwammhaltern habe ich eh das Gefühl, alles nur dreckig zu machen. Außerdem bleibt mir bei all den dunklen, engen Gängen langsam die Luft weg. Das Fenster der Küche lässt sich auch nur in einen engen Lüftungsschacht öffnen, aus dem es noch wärmer und stickiger kommt. Zwar verfügt die Herberge über einen extra Essraum, allerdings fühle ich mich auch dort ohne Fenster und in der sterilen Sauberkeit (voller Häkeldecken, Porzellanfiguren und Jesus) nicht wohl.

Ich hüpfe in letzter Minute in den Gottesdienst. Es hat wirklich wie erhofft Nonnen, allerdings auf eine etwas bedrückende Art. Auf einer Seite des Altars ist ein dickes, schwarzes Metallgitter, hinter dem zwischendurch zum Hostienempfang eine Hand kommt. Die restlichen Nonnen residieren einen Stock höher hinter einer Glaswand. Eine junge Nonne liest mit sehr schöner Stimme einen Text, während beim Singen selbst eine vermutlich 90-Jährige mit überaus brüchiger Stimme ein Solo singen darf. Vielleicht eher faszinierend als ein musikalischer und spiritueller Hochgenuss.

Zurück in der Herberge sitzt Miguel etwas rastlos im sonst leeren Zimmer. Er verkündet mir, dass morgen nicht wie geplant eine Fähre von Laredo nach Santoña fährt. Er hätte im Tourismusbüro gefragt. Er ist aufgewühlt ratlos, nun müssen wir morgen wohl oder übel die andere Wegalternative nehmen. Ich bin langsam ähnlich aufgewühlt, denn das kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Morgen steht er endlose Sandstrand von Noja auf dem Programm, den ich keineswegs gegen die Etappe durchs Hinterland eintauschen will. Ich beruhige mich damit, dann eben den Bus bis Santoña zu nehmen. Dadurch verpasse ich den Strand von Laredo und fühle mich schon wieder ein Stück wie ein Kilometerschummler, aber es gibt ja wirklich keine andere Alternative.

Miguel scheint richtig beschissene Stimmung zu haben, er telefoniert den halben Abend und beschwert sich dort recht verzweifelt, gerade in einem Zimmer mit drei deutschen Hühnern zu sitzen. Ich erleichtere ihm die Situation, indem eines der Hühner schon mal friedlich still schlafen geht.

Nachdem gestern schon ein kühleres Windchen geweht hat, ist es heute wirklich frischer. Und während ich aus Portugalete hinauslaufe, beginnt es sogar zum ersten Mal zu nieseln. Ich packe begeistert mein gutes Kilo Regenequipment aus, Regenjacke, Regenhose, Rucksackhülle und den Schirm, von dem ich mich ja nun doch noch nicht getrennt habe.

Mit dirndlschwingendem Oktoberfest-Motiv auf dem Schirm sehe ich wohl ähnlich faszinierend aus wie mit Hannah Montana letzten Herbst. Allerdings ist mein aktueller Schirm immerhin brandneu und nicht kaputt – und der einzige, den ich mit guten Gewissen mitnehmen und bei Nichtgebrauch ohne Gewissensbisse entsorgen könnte.

Der Weg geht etwas unkoordiniert an der Straße entlang. Neben mir ist Rush Hour. Irgendwer hupt und ruft etwas von Santiago. Ich drehe mich um, sehe aber im beginnenden Tageslicht nur ganz, ganz viele Autos. Erst, als ich es aufgebe und weiterlaufe, sehe ich, wie ein paar Autos vor mir jemand begeistert winkt. Ein kleines bisschen verunsichert es mich dann doch immer. Die Chancen stehen ja nicht schlecht, dass jemand nicht nur ermunternd hupt, sondern hupt, weil ich gerade begeistert in die völlig falsche Richtung laufe. Ich muss an Maike denken, die gestern resigniert gemeint hat, dass die Lastwagen sie immer von der Straßen hupen würden, dabei könnte sie doch auch nichts dafür, dass der Weg da lang geht. Ich musste sie erst aufklären, dass die meisten Hupen freundliche Aufmunterungen sind – eben höchstens unterbrochen von Hinweishupen, dass man gerade auf die Autobahn einläuft, seinen Rucksackinhalt verliert oder zwar nach Pilger aussieht, aber nicht mehr auf dem Camino ist.

Ich bin froh, als es auf den angekündigten „roten Radweg“ geht, der einen aus der Großstadt hinausbringen soll. Irgendwie ist es ein merkwürdiger Weg. Beidseitig meterhoch mit Plexiglas eingefasst, führt er brückenartig über ein Meer von Autobahnen. Ungewöhnlicherweise wird mir fast etwas unwohl in diesem Schlauch, zumal um diese Zeit noch nicht viel los ist. Von Joggern und Hundebesitzern abgesehen habe ich bei fast jedem ein komisches Gefühl und bin froh, wenn er wieder außer Sichtweite ist. Großstadt-Paranoia.

Irgendwann wird es ruhiger, grüner und wieder schlauchfrei. Dafür ist der Radweg extrem befahren, es vergeht keine Minute, dass nicht irgendwo ein Radler auftaucht. Der Nieselregen ist so schwach, dass mir ein Schirm schon fast albern vorkommt. Kaum, dass ich ihn verstaut habe, setzt dann prompt wieder ein etwas stärkeres Nieseln ein. Ich bin bestimmt 10 x am Wechseln. Man kann das Meer fast schon wieder ahnen. Ich bin voller Vorfreude in Anbetracht der Waldetappen der vergangenen Tage. Nur ist das Wetter nicht gerade traumhaft, sondern so, wie ich es auf dem Camino del Norte eigentlich häufiger erwartet hätte: grau, verhangen und regnerisch.

Zwischenzeitlich nieselt es ziemlich fies. Kombiniert mit dem ordentlichen Wind kommt der Regen waagerecht von vorne, sodass ich meinen Schirm wie ein Schutzschild vor mich halte. Leider sehe ich dadurch dann nichts mehr und muss alle paar Meter sichernd drumrumschauen, ob mir etwas entgegenkommt. Und das Schirmchen ist nicht gerade wind- und wettererprobt, sondern stülpt sich zu sehr interessanten Formationen um.

Am Ortseingang von Pobeña fülle ich an einem Brunnen meine Flaschen und verstaue schon wieder einen Teil meiner Regenmontur, sodass ich zum Glück nicht mehr ganz so abenteuerlich aussehe, als Maike und Miguel ein paar Sekunden nach mir (deutlich schneller) angelaufen kommen. Miguel hat es irgendwie eilig und düst vorbei, während Maike erstmal Kaffeetrinken gehen will.

Ich inspiziere derweil den Strand (der so grau in grau dann doch etwas ernüchternd aussieht) und gelange dann über ein paar Stufen nach oben auf einen touristisch hübsch ausgeschilderten Küstenpfad. Es stürmt recht kraftvoll und beeindruckend. Ich mache eine denkwürdige Essenspause, bei der mir so ziemlich alles außer dem Taschenmesser mehrmals wegfliegt.

Irgendwie zieht sich der Weg reichlich in die Länge, vielleicht auch, weil die ganze Zeit Spaziergänger um mich herumlaufen, was mich meistens etwas von meinem pilgerischen Flow abhält. Beziehungsweise mir ebenfalls ein eher touristisches Kurzetappengefühl vermittelt, nur wieder ein bisschen schlechter angezogen.

Recht erleichtert habe ich irgendwann Ontón erreicht, Ort um Ort arbeite ich mich voran. Als ich nach einem kleinen Anstieg auf der Autostraße stehe, sehe ich im gleichen Moment einen gelben Pfeil nach rechts auf dem Boden und etwa 50 m weiter links ein großes Caminozeichen. Dieses sieht mir an sich vielversprechender aus. Während ich noch etwas unschlüssig stehe, winkt schon ein älterer Spanier aus seinem Hauseingang die Straße entlang nach rechts. Camino, Camino. Ich radebreche, ob das denn der richtige Camino wäre oder die Abkürzung auf der Straße. Er schnaubt verächtlich, dass der der Straße entlang viel besser wäre. Ich belehre ihn, dass der vielleicht einfacher ist, ich aber als gute Pilgerin lieber den richtigen laufen will.

An der Abzweigung nach links verordne ich mir erstmal wieder eine Pause. Der Wegzeiger zeigt 16 km an, was mich ehrlichgesagt doch ein bisschen schockt. Das sind bei meinem Tempo schlappe 5 Stunden, und es ist bereits 13.00. Ich konsultiere wieder meinen Führer, in dem das auch nicht wirklich viel kürzer aussieht. Ich fühle mich, als müsste ich nochmal eine ganze Tagesetappe machen (was ja auch ziemlich hinkommt), und dafür bin ich definitiv nicht mehr taufrisch genug. Mein rechter Ballen brennt etwas, sodass ich mir die Mühe mache, schon mal schützend ein Pflaster anzubringen. Ich fuhrwerke gerade halsbrecherisch mit meinen Kompressionsstrümpfen und quietschenden Gummihandschuhen, als aus der nahegelegenen Kirche das halbe Dorf kommt. Ich habe schon mal würdevoller ausgesehen.

Während ich schon wieder etwas snacke und hoffnungsvoll Kalorien mit neuer Energie gleichsetze, sehe ich in der Ferne zwei Pilger nach kurzem Zögern zielsicher rechts die Fahrstraße nehmen. Ich bin verunsichert. Mein Führer empfiehlt eindeutig die schönere Variante durchs Hinterland, statt wegen 7 km abzukürzen. Allerdings fühle ich mich einfach schon wieder bedenklich erschöpft, der brennende Fuß stimmt erst recht nicht lauffreudig, und ich habe etwas Sorge, dass vielleicht alle die Straße gehen und ich mich als ehrgeiziger Idiot alleine verausgabe.

Schweren Herzens gebe ich mir einen Ruck und mache mich zu den 16 km auf. Schließlich bin ich ein richtiger Pilger. Schon am ersten Abzweig bin ich mir nicht nur dessen nicht so ganz sicher, sondern auch des Wegverlaufs. Ich komme zu einem Hof, wo mich ein Rudel nicht ernstzunehmender Minihunde wild ankläfft. Markierungen sehe ich aber auch keine und habe ein wenig das Gefühl, vielleicht doch gerade auf einem Privatgrundstück zu sein. Kurzentschlossen werte ich es als Zeichen für die Straßenvariante.

Etwas verschämt schleiche ich am Haus des Spaniers vorbei, dem ich gerade noch großspurig erklärt habe, dass ich ja schließlich peregrina bin. Zum Glück ist er nicht da. Der Weg ist auch wirklich gelb bepfeilt, was mich ein wenig beruhigt. Er ist vielleicht eher als Wegalternative zu sehen und nicht wirklich als verwerfliche Abkürzung.

Dafür ist er recht spärlich bepfeilt, und ich tappe zuweilen etwas unsicher durch die Gegend. Ich werde entlang der Straße an endlos vielen Abzweigungen den Berg hochgeleitet. Pfeile hat es schon lange keine mehr, aber nachdem ich ja wohl kaum auf eine Autobahn auflaufen soll, gehe ich dann einfach geradeaus weiter. Gleichzeitig bin ich aber denkbar unentschlossen und unzufrieden mit mir. Und ich werde immer unsicherer mit meiner Straßenvariante, weil ich jetzt nicht 2 Stunden ohne irgendeine Markierung laufen will. Irgendwann stehe ich vor der Option, in Gegenrichtung in eine Autobahn zu laufen oder eine Nationalstraße nach Santander zu wählen. Ich gucke ratsuchend in die Karte in meinen Führer, laut der eine A8 ganz elegant an Castro Urdiales vorbeiführt. Das fehlt mir gerade noch, auf irgendeiner Straße entlangzulaufen, von der ich die nächsten 80 km nicht einmal mehr herunterkomme. Es ärgert mich unheimlich, aber so weiterlaufen macht keinen Sinn. Ich beschließe, doch die 15 km zu gehen. Mit Blick auf die Uhr könnte ich fast schon heulen, nachdem ich hier gesamt eine weitere Stunde verbummelt habe. Und so richtig zum Heulen wird mir zumute, als ich nicht einmal mehr zurückfinde. Ich schaue auf ein wild verzweigendes Straßennetz, unter mir rauscht die Autobahn, und ich erinnere mich überhaupt nicht mehr, diesen Weg schon mal hochgekommen zu sein. Ich bekomme so richtig Panik. Mitten im Straßengewühl komme ich irgendwann zu einem Häuschen mit gepflegtem Garten, in dem ein Mann arbeitet. Ohne Rücksicht auf Privatgrund stapfe ich seinen Privatweg hoch und störe ihn beim Rosenschneiden. Glücklicherweise ist er freundlich und recht verständnisvoll angesichts meiner etwas aufgelösten Erscheinung und moderat gefestigten Stimme. Ich kiekse, wo es denn den Camino hätte. Er muss im früheren Leben entweder Engel oder Hospitalero gewesen sein, jedenfalls guckt er mich abgeklärt und sehr sortiert sehr ruhig an. Mit tiefer Stimme doziert er, dass es da drei Möglichkeiten gäbe. Die erste wäre irgendwo da unten ein Abzweig, aber der wäre schlecht zu finden (ich erinnere mich, die beiden Pilger vor mir irgendwo wild im Buschwerk gesehen zu haben); dann gäbe es den Weg da hinten, aber der wäre sehr lang (ich nicke sehr zustimmend). Und dann (plötzlich wird alles 2 Nuancen heller und freundlicher) gäbe es da die dritte Variante einfach der Straße nach, 8 km bis Castro Urdiales. 8 km klingt nach 2 Stunden und damit sehr, sehr göttlich. Ich krächze, dass es da oben aber nicht weitergeht vor lauter Straßen und die Hauptstraße an Castro Urdiales vorbeiführt. Er schüttelt ruhig den Kopf, ich solle einfach der enne- seis- tres- cuatro folgen, die würde ganz sicher nach Castro Urdiales führen. Einfach enne- seis- tres- cuatro, nur 8 km, einfach enne- seis- tres- cuatro.

Ich bin halb hypnotisiert und voller neuer Hoffnung mit meiner neuen Freundin N634. N634, und alles wird gut.

An der Kreuzung von vorhin schlage ich also begeistert „Santander“ ein, schließlich ist es ja N634. Erfreulicherweise ist die N634 auch wirklich hervorragend ausgeschildert. Auto begegnet mir kein einziges, nur ab und zu ein paar der allgegenwärtigen Rennradler (die ja beruhigenderweise wahrscheinlich auch nicht von Santander kommen). Ich hangle mich begeistert auf meiner N634 unter und um die rauschende Autobahn herum und bin plötzlich völlig zuversichtlich und geerdet.

Als mein Sträßchen einen umwegigen Schlenker macht und an einen Ort führt, taucht plötzlich fast schon höhnisch ein gelber Pfeil auf, der mich nach rechts in die Vegetation leiten will. Ich bin recht misstrauisch. Schließlich vertraue ich seit einer Stunde nur noch der N634. Ich folge dann doch dem gelben Pfeil, mache schon wieder eine Snackpause und wandere durch einen netten Park, in dem auf Schautafeln die regionalen Fabelwesen erklärt werden (wozu mir im Moment allerdings die Ruhe fehlt). Spärlich beschildert laufe ich dann an vielen Stellen einfach wieder geradeaus, um irgendwann an der Küste wieder auf einen touristisch gestalteten Lehrpfad zu kommen. Ich studiere die Schautafeln und kriege eine Krise, da der Weg zwar ewig lang am Ufer entlang führt, dann aber am Schluss einfach bei einer Mine aufhört. Ich will schon wutentbrannt wieder umkehren, als zwei ältere Leute aus ihrem Auto springen. Nein, nein, ich solle da weitergehen. Ich sage, dass es da doch aufhört. Nein, nein, es sähe so aus, aber es hätte da so ein paar Treppen. Na gut.

Ich laufe den Minenlehrpfad entlang auf eine rostige Eisenbahnbrücke zu, die von einem Pfosten recht beängstigend mitten ins Meer ragt. Wie ich im Vorbeigehen lerne, ist es keine halb eingestürzte Brücke, sondern ein Förderkran ins Meer, von dem aus direkt Schiffe beladen werden konnten. Irgendwie hat dieser rostige Stahlkoloss, der laut Führer 120 m lang ist und bis zu 22 m über dem Meer schwebt, etwas gespenstisch Trauriges an sich. Der Blick am Ende der verschiedenen Schachttunnel durch die rostigen Pfeiler hinein ins Nichts des Meeres hat erst recht etwas Gruseliges, sodass ich schnell nach links weitergehe – wo elegant ein abgesperrter, weiterer Tunnel ist. Sackgasse. Ich kriege schon wieder die Krise, schon wieder ewig lang für nichts irgendwo hingelaufen zu sein. Ich will schon frustriert umkehren, als mir die escaleras, die Treppen des alten Paares in Erinnerung kommen. Und wirklich, kurz vor dem Förderarm führt ein kleines Wegchen nach unten und nach dem Förderarm wieder steil bergauf. Mit moderater Schwindelfreiheit, dafür aber umso größerer Abstürzfantasie ausgestattet, wird mir ziemlich mulmig, als ich ein kleines Trampfelpfädchen recht steil den Berg hochkracksle, noch immer nicht recht überzeugt, wo das hinführen mag.

Ich bin recht erleichtert, als ich lebend auf einer ebeneren Wiese lande, auf der sich der Pfad zwar schmal, aber beharrlich fortsetzt. Zum ersten Mal traue ich mich auch wieder, Fotos zu machen. Es windet ziemlich heftig, aber mit sicherem Abstand zum Abgrund ist es ein tolles Gefühl. Der Wind zerrt an mir und den Gräsern und Blumen. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr einsam unsicher allein auf falschem Weg, sondern fühle es wieder von der positiven Seite. Allein in Ruhe inmitten dieses gewaltigen Naturschauspiels.

Ein letztes Mal für heute könnte ich heulen, diesmal aber vor Erleichterung, als irgendwann vor mir Castro Urdiales auftaucht. Nach so viel gefühltem Verlaufen habe ich meine Angstetappe doch noch hinter mich gebracht (wenn auch nicht mit läuferischer Vollleistung).

Während ich mich an den Strand durchwurstele, kommt mit einem mal plötzlich die Sonne heraus. Von einer Minute auf die anderen stehe ich an einem friedlichen, hellen Strand, durchwärmt von strahlender Sonne. Ich bin so erleichtert und glücklich, dass ich die nächstbeste Telefonzelle nutze, meinen ersten Telefonanruf an meine Mutter zu tätigen. Wann konnte ich bisher so voller Überzeugung sagen, dass ich bei tollem Wetter rundum glücklich an einem schönen Strand stehe.

Ich verlasse die Markierungen zugunsten des kleines Strandes, den ich wie üblich nach Muscheln absuche. Und zum ersten Mal finden sich heute wirklich drei hübsche Exemplare mit definitiv guten Energien.

Den Camino habe ich durch meinen Abstecher weitgehend verloren und trabe mit meinem Führer in der Hand die Uferpromenade entlang. Hinter der Kirche bin ich dann etwas verloren. Ich frage mal wieder ungeniert ein älteres Ehepaar nach der Stierkampfarena, bei der ja die Herberge liegen soll. Sie verstehen meine „Arena del Torre“ rein überhaupt nicht, mein zurechtgeschustertes Spanisch ist mal wieder ein false friend und bedeutet „Sand des Turmes“, wie ich später erfahre. Nachdem die beiden hilfsbereit sind, helfe ich eben mit reichhaltiger Gestik und Mimik etwas nach. Nachdem ich mit angedeuteten Hörnern wild den Weg entlangrenne und mich gleichzeitig filigran mit zur Seite geschwungenem Tuch zur Seite ducke, haben die beiden zumindest etwas zu lachen und verstehen, was ich meine. Immer geradeaus bis zu einem Krankenhaus.

Das Krankenhaus finde ich zwar nicht, dafür aber die Herberge. Ein winziges, gelbes Häuschen, in das ich zögerlich eintrete. Einen Hospitalero hat es nicht, dafür kommt mir Maike strahlend und frisch geduscht entgegen. Die Herberge ist schon gut belegt. Neben einigen neuen Gesichtern ist auch Miguel da. Im Gegensatz zu Maike, die auch die Straße gelaufen ist, ist er natürlich den langen Weg gelaufen, und es wäre sowas von wunderschön gewesen. Milagroso. Maravilloso. Bonito. Fantástico. Precioso. Wunderbar weiche Böden, perfekt ausgeschildert und solch eine atemberaubende Landschaft. Er hört gar nicht mehr auf, was ich da alles verpasst habe. Ich bin moderat erfreut.

Aber es überwiegt die Erleichterung, es einfach geschafft zu haben. Ich dusche, während es vom Tisch im kleinen Vorraum ungewohnt gesellig plaudert. Neben der immer kommunikativen Maike, einer Koreanerin und einem Spanier hat es eine kleine, kurzhaarige Pilgerin schwer zuzuordnender Nationalität, die sowohl auf Spanisch als auch auf Englisch zu allem sehr viel zu sagen hat. Und vor allem sehr laut.

Ich zentrifugiere wieder begeistert einen halben Liter Wasser aus meinen Sachen, die ich kaum mühsam aufgehängt habe, als ich sie auch schon wieder abhänge, nachdem die Trocken-Regen-Wahrscheinlichkeit nicht allzu verlockend ist.

Der kleine, massive Tisch mit seinen beiden Bänken ist ein wahrer Geselligkeitsmagnet. Zum ersten Mal auf diesem Camino sitzen alle zusammen und reden wild durcheinander. Eine kleine blonde Österreicherin trifft ein sowie ein junger Spanier mit einem Bordercollie. Obwohl dieser nicht gerade einen aggressiven Eindruck macht, bin ich absolut nicht angetan bei der Idee, dass der hier schlafen soll. Der gute Hund ist ein einjähriger Macho, wie sein Herrchen sehr schnell und strahlend erzählt. Ich bin erleichtert, dass selbst Maike, die gut Spanisch kann, ihn kaum versteht. Während Herrchen in der Dusche weilt, rennt Macho aufgeregt 10 x ums Tischbein, bis seine Leine so kurz ist, dass er sich schier erwürgt. Er beginnt minutenlang wild zu kläffen. Ich fühle mich so richtig wohl mit meiner Hundeangst.

Die Österreicherin Chrissie ist ähnlich erschlagen wie ich, allerdings ist sie auch die lange Route gelaufen. Sie beschwichtigt mich aber. Soooooo toll wäre das dann auch nicht gewesen. Sie gewinnt sofort 85 Sympathiepunkte bei mir. Sie erzählt, gerade 5 Tage in Bilbao bei einer Freundin pausiert zu haben. Eigentlich bei einer Freundin einer Freundin, aber nachdem sie sich so gut verstanden haben, wären aus einem kurzen Treffen eben gleich 5 Tage mit gemeinsamen Unternehmungen geworden. Ähnlich verloren und reizüberflutet, wie ich mich in Bilbao gefühlt habe, fühlt sich Chrissie offensichtlich in dieser Herberge. Sie sagt, es wäre das erste Mal, dass sie mit anderen Pilgern in einer Herberge ist. Und bisher hat sie auf ihrem Camino ab Frankreich gerade einmal exakt 3 Pilger überhaupt getroffen. Schwer vorstellbar, aber es leuchtet mir schon ein. Sehr viele Herbergen haben seit Anfang April geöffnet. Nach Abzug ihres Bilbao-Besuchs ist sie demnach schon in der letzten Märzwoche gestartet.

Trotz Sonntag scheint es einen kleinen Laden zu haben. Mit Maike und der Koreanerin spurte ich geschwind durch den Nieselregen. „Kleiner Laden“ trifft es wirklich. Vor allem das Sortiment dreht sich beeindruckend um Chips und Schokolade und Chips und Chips. Ich kaufe alles übrige – ein Baguette, eine Dose Thunfisch und einen Beutel Magdalenas.

Der Abend am geselligen Holztisch ist nett, wenn auch etwas laut und wirr. Macho kläfft und rennt wie wild, sein Herrchen redet strahlend und schnell wie ein Maschinengewehr wirres Zeug, ein anderer Spanier redet immer wieder vor sich hin, die kleine Kanadierin mit portugiesischen Wurzeln steuert zu allem politische Verschwörungstheorien bei, und ein etwas älterer Spanier mit irgendwie versteinertem, wissendem Blick und einer Aura à la Paulo Coelho macht wortlos mit einer riesigen Kamera von allen Fotos für seinen youtube-Kanal.

Maike und Chrissie sind sympathisch und in meinem Alter. Irgendwie kommt das Gespräch auf den Hauptweg und warum mein Herz daran doch irgendwie so sehr hängt. Ich komme ins Schwärmen über die richtigen Pilgerherbergen und das Pilgergefühl. Chrissie guckt mich skeptisch an, was denn bitteschön für mich ein richtige Pilgerherberge wäre. Ich erzähle von richtigen Hospitaleros, die nicht einfach nur zum Kassieren oder in diesem Fall hier nur zum Aufräumen vorbeikommen, sondern sich um die Pilger und ihre Probleme kümmern. Sie schaut mich spöttisch und abschätzig an und meint, dass dann zumindest sie keinen richtigen Hospitalero braucht, der ihr „komm, Mädchen, erzähl mir doch mal von Deinen Sorgen“ sagt. Ich widme mich daraufhin meinem Tagebuch. Schon seit längerem neige ich dazu, meine spirituelle Caminobegeisterung für mich zu behalten. Und einmal mehr bin ich davon überzeugt, dass ich das auch besser weiterhin so machen sollte.

Ich gehe wie üblich zeitig schlafen; der Tag war wieder einmal recht anstrengend in allen Aspekten. Es ist schon fast eine Wohltat, als sich meine Ohrstöpsel ausdehnen und ich den scheppernden Ausführungen über die Drogenkriminalität in Toronto entgehe.