Meine Nachtruhe verläuft unruhig. Ich lebe generell in ständiger Angst, hemmungslos zu verschlafen. Normalerweise beruhigt mich ein Blick auf die Uhr aber wieder schnell und lässt mich beruhigt einige Stunden weiterschlafen. Hier hat der Schlafsaal kein Tageslicht, ich kann auf der Uhr überhaupt nichts erkennen und verbringe wahrscheinlich ab 3 Uhr morgens die Nacht in einem unruhigen Halbschlaf.
Gegen 7 mache ich mich mit dem Deutschen aufbruchbereit. Orietta ist extra wegen uns aufgestanden, dabei hat sie gestern sicher länger gearbeitet als wir. Sie bringt jeden persönlich zur Tür und verabschiedet uns. Ich bin beeindruckt und berührt. Ein Stück weit auch irgendwie beseelt; heute läuft es sich wieder sehr gut.
Mir kreist eine kleine Schnapsidee durch den Kopf; sobald ich zu Hause bin, möchte ich eine Karte an das Pilgerbüro in Santiago schreiben und diejenigen grüssen, die ich auf dem Weg kennengelernt habe und die die gesamte Strecke gehen. Wenn ich Revue passieren lasse, wer mir da alles einfällt, stimmt es mich fast schon wieder versöhnlich. Ein bisschen hadere ich ja doch jeden Tag mit meinen Minietappen und den fehlenden Freunden und der fehlenden Familie. Ich muss an die vielen besinnlichen Gedichte in der Herberge denken; an die Stelle in meinem Lieblingsgedicht „aprendí que de nada sirve ser luz sí no vas a iluminar el camino de los demás“ – „es macht keinen Sinn, Licht zu sein, wenn man nicht den Weg für die nach einem erhellt“. Wenn auch mein eigener Camino nicht in jedem Moment von großen Glücksmomenten bestimmt ist, vielleicht habe ich wenigstens für manch Pilger entlang des Weges eine Funktion gehabt. Manch einer hat sich Ballast von der Seele geredet, und mit etwas Glück läuft ein dicker Brasilianer Santiago entgegen in dem Gefühl, dass es Engel (und vermutlich wichtiger) einen Gott gibt.
Auf Villafranca Montes de Oca freue ich mich nicht besonders. Ich habe es in Erinnerung als Durchgangsstraße mit unendlich vielen Lastwagen. Auch diesmal macht der letzte Kilometer entlang der Straße nicht viel Spaß. Den meisten Camino über laufen wir ohne Straße, und wenn, ist sie wenig befahren, und die vereinzelten Fahrer wechseln rücksichtsvoll in weitem Bogen auf die Gegenspur, oft noch von einem ermutigenden Winken oder Hupen begleitet. Hier donnert der Schwerlastverkehr die kleine Landstraße entlang, die Straße reicht kaum für zwei sich entgegenkommende Lastwagen, an Ausweichen gar nicht zu denken. Ich bin ziemlich froh, als ich vor der Herberge stehe.
Diese ist auch wieder romantisch direkt an der Straße und hat den unleugbaren Charme eines ehemaligen Schulhauses. Hospitalero hat es nicht, sodass ich einfach mal den Geräuschen nach in den ersten Stock tappe. Dort hat es für die Tageszeit bereits überraschend viele Pilger, und zwei davon kommen auch gleich schon wild kreischend auf mich zugestürmt. Es sind zwei Koreanerinnen, mit denen ich in den vergangenen Tagen wohl mal ein paar Worte gewechselt habe. Seit ich „Sonnenblume“ in ihrer Landessprache gesagt habe, habe ich offensichtlich einen Stein im Brett. Heute sind sie so, so froh mich zu sehen, ich muss ihnen helfen. Die Ladies sind schier in Tränen aufgelöst und mit den Nerven halb am Ende. Sie haben mal zwischendurch einen koreanischen Pilger getroffen (vermutlich den, bei dem ich in Cizur Menor Sonnenblumen-Stein-gebrettet habe), der ihnen seinen Führer ausgeliehen hat. Sie haben vergessen, ihn zurückzugeben, und nun ist der Koreaner weit voraus, wohl schon in Burgos, und oh weh, sie haben ja noch seinen Führer. Soweit verstehe ich es, nur das Drama erschließt sich mir nicht so ganz. Ich vermute, dass das patente Kerlchen entweder ohne Führer klarkommt oder sich einen Neuen gekauft hat oder im worst case ohne Führer völlig in der spanischen Wildnis verschollen ist, aber dann ist er jetzt ja wohl auch kaum in Burgos. Jegliche Beruhigungs- und Beschwichtigungsversuche bringen nichts, vermutlich geht es um ein mentalitätsspezifisches Stolzgefühl, so verspreche ich also, für sie den Dolmetscher zu machen und die Herbergen in Burgos nach dem Koreaner abzutelefonieren.
Sie sind so dankbar (mir ist das alles sehr schleierhaft), dass ich gleich zum Essen eingeladen werde. Aus der Tupperdose mit Zwischenstation Mikrowelle gibt es ein Omelette mit Meeresfrüchten, das sie gestern selber gebastelt haben. Ich esse es im todesmutigen Vertrauen auf meine gesunde Darmflora und lasse mich von den beiden Damen bespaßen. Trotz Weltzusammenbruch wegen unterschlagenem Reiseführer sind sie nicht allzu traditionell koreanisch. Beide sind um die 40 und arbeiten als Reiseleiterinnen. Europa kennen sie daher schon in- und auswendig, und erzählen kichernd und gackernd von ihrer Arbeit, z.B., dass man da natürlich schon ganz schön schreien muss, wenn man 40 Leute durch die Stadt zu treiben hat. Beide sehen aus wie 20 und als könnten sie kein Wässerchen trüben. Die eine ist mit einem Schwaben verheiratet und lebt auch in Deutschland. Statt Englisch reden wir einen Moment Schwäbisch – ein skurriles Gefühl.
Anschließend ist Siesta angesagt. Zumindest für den Großteil der Pilger. Nicht so für eine ziemlich dicke und ziemlich laute Pilgerin, die im Schlafsaal ihr Essen einnimmt und die beiden ebenfalls am Tisch sitzenden Pilger lautstark beschallt. Es geht über eine halbe Stunde so, und vermutlich ruhe ich heute nicht besonders gut in meinem Chi, ich könnte jeden Moment explodieren.
Glücklicherweise entscheide ich mich für den friedlicheren Weg und begrabe einfach meine Siestapläne. Ich setze mich mit an den Tisch, schreibe mein Tagebuch und widme mich wieder meiner Nachmittag-Standard-Beschäftigung und knüpfe Armbändel. Die junge Finnin gegenüber guckt mich etwas belustigt an und meint „so, so, mein Ruf würde mir ja vorauseilen“. Ich bin etwas irritiert, vermute aber, dass es um mein ständiges Bändelflechten geht. Die Andeutung versteht sie aber überhaupt nicht. Als ich nachfrage, meint sie, ich wäre doch dieses Sprachgenie. Ich muss lachen, da verwechselt sie mich dann wohl. Nein, nein, sie hat das selber gesehen. Sie rechnet mir den Abend in Santo Domingo minutiös vor; als sie gekommen wäre, hätte ich Spanisch und Englisch gesprochen. Später Französisch. Italienisch könnte ich auch (bezugnehmend auf meine Konversation mit einem Italiener, der wie ich auf das Heißwerden seines Wassers warten musste und zu dessen Gemüse im Wasser ich effektvoll „ah, Minestrrronnne!“ überbrückt habe). Zum Glück hat sie nicht meine koreanische Sonnenblume und mein „jag pratar svenska“ zu dem schwedischen Prof gehört. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, habe ehrlichgesagt aber eher das Gefühl, annehmbar Englisch zu sprechen, mich radebrechend auf Spanisch verständlich machen zu können und damit das Soll schon erfüllt zu haben.
Die Koreanerinnen haben in der Zwischenzeit einen Supermarkt gefunden und sind kichernd begeistert von einer Flasche Rotwein. Offensichtlich haben sie noch irgendwo einen Koreaner aufgetrieben, der das Buch jetzt auch irgendwie noch mitnehmen kann, sodass die Welt auch ohne Anrufversuche nach Burgos wieder in Ordnung ist. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Und die Koreanerinnen verschwinden schon wieder kichernd, allerdings die Form wahrend und mit der Rotweinflasche diskret in einer Tüte unter einem T-Shirt versteckt.
Ich finde es etwas trostlos und seelenlos in dieser Herberge direkt an der Straße. Ich suche den Supermarkt, auch dieser ist etwas weltfremd bestückt. Ein deutschsprechender Mann sucht hilflos mit seiner Mutter nach etwas. Ich zeige ihm die richtige Dose, woraufhin er mit leuchtenden Augen fragt, ob ich denn zufällig „so eine Pilgerin“ wäre. Er hätte davon ja gelesen und das wäre ja spannend und so. Seine Mutter um die 80 wird auch gleich noch dazugerufen, die wollte schon auch immer mal „so eine Pilgerin“ sehen. Wir plaudern nett (und ich gebe mir Mühe, ein gutes Bild abzugeben); sie wollen wissen, in welchen Hotels wir denn so schlafen und wie das mit dem Gepäcktransport so klappt. So süß sie auch sind, aber da ist es noch ein langer Weg zum Pilger.
In der Herberge ist es irgendwie kühl; als ich zum Kochen in den Verschlag auf dem Pausenhof gehe, weht erst recht ein kühler Wind. Ich esse sehr schnell fröstelig meine Linsensuppe, während sich ein deutscher Pilger recht penetrant neben mich setzt und mich ebenso penetrant in ein Gespräch verwickelt. Wir haben gar keine guten Schwingungen, er ist mir rundum unsympathisch. Alles läuft nur darauf heraus, wie gut und erfolgreich er ist. Seine Witzchen betreffen meistens wirklich hochgestochene Themen, bei denen ich nicht mitreden kann (und eigentlich auch nicht will). So spüle ich schnell ab, sammle meine Wäsche von der Leine und lasse ihn recht unhöflich allein sitzen. Ganz mein Stil ist das eigentlich nicht, aber irgendwie ist heute nicht mehr drin. Generell bin ich mit den Gedanken schon weitgehend bei Burgos und dem Abschluss. Ganz so tief in neue Pilgerbeziehungen eintauchen will ich innerlich wohl einfach nicht mehr. Ich fühle mich gar nicht mehr so richtig verwurzelt im Pilgern, der donnernde Schwerlastverkehr tut sein übriges.
Ich knüpfe noch meine zwei Bändel fertig und lege sie den Koreanerinnen aufs Kopfkissen.