Ich werde davon wach, wie der kleine Franzose durch unseren Schlafsaal tappt und seinen Hund von der Terrasse einsammelt. Danach sitzt er lesend in der Küche. Es ist gegen 6:30, noch ein bisschen früh zum Starten, aber schlafen kann ich auch nicht mehr. Ich verlege mein Hab und Gut in die Küche, wo bald auch schon der andere Franzose am Packen ist. Der Pilger mit Hund entscheidet sich im letzten Moment und recht überraschend dafür, heute doch nicht weiterzulaufen. Sein Bein tut einen Hauch von weh, und er möchte nichts riskieren bzw. er möchte lernen, auf seinen Körper zu hören. Ich bin recht beeindruckt. Somit trennen sich heute die mehrwöchigen Pilgerfreunde, vermutlich auch bei weniger emotionalen Männern ein gewisser Einschnitt.
Nachdem es wirklich noch absolut dunkel ist, frühstücke ich noch weitere Reste (und Mandarinen) aus meinem Vorratsbeutel. Das Baguette schmeckt mit Mini-Milkyway und Prinzenrollekeksen etwas trocken, es wird Zeit für einen spanischen Supermarkt.
Mein Packen dauert immer noch ewig, ist aber schon einen Hauch strukturierter als gestern. Während sich die Küche mit packenden Pilgern füllt, steigt mein Drang, wieder loszulaufen, Dunkelheit hin oder her. Ich bin froh, als ich Domingo auf der Treppe treffe. Ich frage, ob Angel schon wach ist. Ist er zum Glück, und ich werde gleich in den Schlafraum geleitet. Seine Beine sehen wirklich nicht gut aus, feuerrot und geschwollen an den Schienbeinen, seine Laune ist also moderat optimistisch. Ich übergebe ihm mein Bändel, woraufhin er wegschaut und etwas grummelt. Er streckt mir seinen Arm hin, und das umständliche Zusammenknoten am lebenden Objekt ist mal wieder ein seltsam emotionaler Moment. Er schaut mich zum Abschied an, schüttelt den Kopf und wirft mir eine Kusshand zu.
Dann bin ich fast froh, schnell die Herberge verlassen zu können und loszulaufen. An der ersten Ecken begrüßt mich begeistert der kleine Hund, der recht verwirrt davon zu sein scheint, dass es heute gar nicht losgeht. Ich biege auf die Hauptstraße ein, auf der mir ein eisig kalter Wind entgegen weht. Mit meiner Taschenlampe ums Handgelenk nehme ich letzte Korrekturen am Kälteschutz in Angriff; Stoffschlauch über das Gesicht hoch bin an die Augen, dazu setze ich meinen Fleecewärmer über die Ohren auf. Dabei baumelt mir leider die Taschenlampe mit voller Wucht ins Auge. Mein erster Gedanke gilt meiner Kontaktlinse, und noch bevor ich den Test mache, wie es sich mit zusammengekniffenem linken Auge noch sehen lässt, weiß ich eigentlich schon, dass ich nur Umrisse sehen werde. Vor meinem rechten Auge mit schlappen fast 8 Dioptrien ist definitiv keine Kontaktlinse mehr. Routiniert rühre ich mich nicht vom Fleck und leuchte zentimeterweise die Umgebung ab. Ich taste die Wimpern und das Gesicht ab, leuchte vorsichtig an meiner Kleidung herunter, kontrolliere die Schuhe. Nirgends haftet eine Kontaktlinse. Ich markiere meinen Standpunkt mit meinen zusammengerollten Handschuhen und mache einen großen Schritt zur Seite, um nochmal die Umgebung abzuleuchten. Es windet wie verrückt, im Nu weht es meine Handschuhe weg. Rein logisch kann die Kontaktlinse ja nicht weg sein, aber nach einer Viertelstunde vergeblicher Suche gebe ich auf. Zu Hause im Nachthemd, bei Licht und ohne Wind finde ich heruntergefallene Linsen, aber hier im Dunkeln, mit etwas Straßenlaterne und LED-Lämpchen, tausend Schlupfwinkeln an der Kleidung und noch dazu einem Wind sondergleichen, keine Chance. Vermutlich hat sie ursprünglich irgendwo an meiner Jacke geklebt, aber mittlerweile bin ich so viel herumgelaufen, dass ich keine Hoffnung mehr habe. Resigniert laufe ich zurück zur Herberge, wo mich der Hund schon wieder schier auffrisst. Die Tür lässt sich von außen nicht öffnen, aber nach mehrmaligem Klopfen öffnet mir zum Glück eines der jungen Girlies. Ich bin ziemlich verzweifelt, als ich meinen Rucksack gerade wieder hinknalle. Meine letzte Hoffnung ist, die Linse noch irgendwo im Auge zu haben, was sich nach einem Blick in den Spiegel aber auch erübrigt. Ich dose meine verbleibende Linse ein und setze meine Brille auf, um mich dann wieder auf den Weg zu machen. Ich bettele, dass das Ganze doch noch irgendwie gut ausgeht und ich sie zum Beispiel vielleicht doch noch heute Abend in meinen Stiefeln wiederfinde. Vielleicht sollte ich lieber beten, mir auf den Stufen vor der Herberge nicht den Hals zu brechen, mein Stolperer im Dunkeln ist schon grenzwertig.
Zurück auf der Straße überkommt mich dann plötzlich eine gewisse Ruhe. Der Verlust meiner wertvollen Dauerlinse kostet mich zwar vermutlich mehr als mein gesamter Camino, ich habe keine kompatible Sonnenbrille und mein angeknackstes Selbstwertgefühl bekommt als dick verglaste Brillenschlange erst recht den Todesstoß, aber gleichzeitig kommt mir in den Sinn, dass ja heute bereits Montag ist. Wenn ich nachher gleich eine SMS nach Hause schreibe, kann mir meine Mutter eine Ersatzlinse bestellen, sodass ich dann zurück zu Hause vielleicht schon wieder „normal“ durch die Gegend laufen kann. Imponieren muss ich hier eh niemanden, und das bisschen Sonne werde ich auch ohne getönte Gläser verkraften. Vielleicht hat es irgendeinen Sinn.
Mitten auf dem Weg bleibe ich plötzlich stehen. Irgendetwas lässt mich meine Taschenlampe zücken, in die Knie gehen und den Boden beleuchten. Vor mir schimmert etwas in ganz zartem Hellblau. Ich strecke meinen befeuchteten Finger aus, und was daran haften bleibt, ist definitiv eine Kontaktlinse. Gut 20 Meter in Windrichtung von meiner Verluststelle entfernt. Hektisch laufe ich zur nächsten, einigermaßen windgeschützten Straßenecke, haue meinen Rucksack auf den Boden und zittere die Linse ins Auge, aus unerfindlichen Gründen in der ängstlichen Ahnung, es könnte irgendeine andere Linse sein. Der kontrollierende Blick mit zusammengekniffenem Auge ergibt definitiv Verbesserung um 8 Dioptrien. Ich wurstele schnell die Brille zurück in den Rucksack und die andere Linse ins Auge, um mich dann ziemlich zittrig wieder auf den Weg zu machen. Das Ganze ist mir mal wieder nicht so ganz geheuer, und ich muss auch prompt wieder ergriffen heulen. (Diesmal ausnahmsweise ein segensreicher Mechanismus mit reinigender Durchspülungswirkung. Vor lauter Aufregung habe ich den Findling ohne jegliche Reinigung direkt von der Straße ins Auge gepappt).
Hornillos mit seinen Lichtern ist schnell verlassen, es geht in die (bis auf den temporär hinter Wolken versteckten Mond) stockdunkle Strecke in die Meseta hinaus. Ich bin noch so zittrig, dass ich einfach stehenbleibe und abwarte, bis es heller wird. Wenige Minuten später kommt schon der erste Pilger. Es ist einer der Franzosen, ein Älterer, der vermutlich einen leichten Schlaganfall hinter sich hat. Seine Sprache ist etwas undeutlich, und die Füße bekommt er kaum angehoben. Während mir gestern in der Herberge oft der Atem gestockt hat, wenn er schier über jede Schwelle gestolpert ist, scheint der Camino sein Revier zu sein. Zwar schlurft er auch hier, ohne die Füße merklich vom Boden abzuheben, aber in einem Wahnsinnstempo und mit einer selbstverständlichen Sicherheit und Entschlossenheit, dass ich beeindruckt bin.
Die Wolken verschwinden, im Mondlicht wird es deutlich heller. Ich bin immer noch nicht richtig in Lauflaune, ich trödele meterweise, um den Sonnenaufgang im Rücken mitzubekommen. Irgendwie ist mir heute danach, und irgendwie warte ich auch ein bisschen auf David.
Dieser taucht auch wirklich recht zeitgleich mit der Sonne auf. Normalerweise bin ich Meister der Unsicherheit, wenn ich auf dem Weg jemandem begegne, der ähnlich schnell ist, will ich doch niemandem meine Gesellschaft und ein Gespräch aufzwingen. Bei David habe ich glücklicherweise das Gefühl, dass wir vermutlich zusammen nach Castrojeriz gehen werden und das gut so ist.
Ich bin total high von dem wunderschönen Sonnenaufgang über den abgeernteten Feldern, erst recht, als die Sonne dann so richtig wärmend von hinten gegen den immer noch recht strengen Wind anscheint. Der Wind treibt riesige Gewitterwolken durch die Ebene, und ähnlich eines Gewitters hagelt es nur so wechselnde Farbenspiele und Regenbogen, wohin wir auch schauen. Ich stoppe alle zwei Meter für ein unglaubliches Foto und habe fast schon wieder meinen Aufdringlichkeitskomplex, nachdem der arme David nur halb so begeistert ist, vermutlich gerne schnell läuft und sich wahrscheinlich an den Kopf langt, auf was er sich da eingelassen hat. Er findet die Landschaft auch toll, schiebt es bei mir aber auf die Tatsache, dass ich eben neu hier bin und er das ja schon seit 2 Wochen kennt. Kann ich mir nicht vorstellen. Die Meseta ist doch ungleich begeisternder als dieses halbliebliche, ewige Geweinberge vor Burgos.
Wie nicht anders zu erwarten, bestätigt sich mein Eindruck, dass David ein rundum sympathisches Kerlchen ist. Er erzählt von seinem Kombi, mit dem er einfach mal irgendwo hin fährt und im Auto übernachtet, davon, dass er immer eine gut gefüllte Obstschale braucht, von seinen Zukunftsplänen und seinem Ehrgeiz, seinen Rucksack (samt Anreise-Jeans und stolzen über 16 kg) ohne Nutzung der spanischen Paketpost bist Santiago zu tragen. Dass er etwas ungesund aussehend nach vorne gebeugt läuft, verstehe ich spätestens, als wir zwecks leichter Regenkleidung stoppen und ich mal spaßeshalber versuche, seinen Rucksack hochzuheben.
Ein bisschen geknickt bin ich doch angesichts der ersten kleinen Regentropfen und der endgültig hinter dicken Wolken verschwindenden Sonne. Glücklicherweise setzt sich der Regen nicht fort, aber den strahlend blauen Himmel an meinem ultimativen Lieblingsplatz, der Ruine von San Antón, kann ich mir leider auch aus dem Kopf schlagen. So oder so strahlt der Ort wieder eine faszinierende Stimmung aus, nicht zuletzt wegen eines großen Taubenschwarmes, der in irgendwie geheimnisvollen Linien um die Steinmauern fliegt. Zwischen wieder unzähligen Fotos bin ich ehrfürchtig erschlagen, und wäre da nicht der recht wenig ergriffene David neben mir, würde ich wahrscheinlich meinen Schlafsack auspacken und die nächsten Stunden vor dieser Ruine biwakieren.
Kaum haben wir San Antón hinter uns gelassen, kommt schon wieder Sonne heraus, und ich würde am liebsten nochmal umdrehen. Statt dessen laufen wir die beeindruckende, schnurgerade Allee Richtung Castrojeriz entlang, das auch schon bald in Sicht kommt. Für mich ein spezieller, wunderschöner Ort, unendlich langgezogen, am Fuße eines Hügels mit beeindruckender Festungsruine und pittoresken Kirchen.
David hat wirklich Glück, dass ich die Kirche schon im Frühling mit Mandelblüte ausreichend fotografiert habe, sodass es ausnahmsweise mal zügig weiter geht. Er kippt schier aus den Latschen vor Hunger, sodass er sich noch mit mir auf die Suche nach einer Einkaufsmöglichkeit macht. Die beiden bekannten Tante-Emma-Läden bestechen durch geringe Auswahl und verschimmeltes Gemüse. Außer einem Brot kann ich mich zu nichts durchringen und möchte lieber doch noch den Supermarkt suchen, den ich schon früher nicht gefunden habe. Anstatt sich endlich eine Bar zu suchen oder weiterzugehen (schließlich hat er noch gut 20 km vor sich), schließt sich David mir an. Er hat sich schon mal zwei Bananen und eine Salami gekauft. Bevor ich überhaupt merke, dass er kaut, hat er schon den Rest der zweiten Banane intus. Ich kann ihm gerade noch ein Stück Brot zu seiner Salami anbieten, bevor diese ein ähnlich jähes Ende findet. Er scheint wirklich sehr hungrig zu sein. Ich bin richtig erleichtert, als wir unten an der Hauptstraße dann wirklich einen herkömmlichen Supermarkt finden. Wir laufen wieder zusammen hoch an den Camino. Irgendwie ist es sehr komisch, sich jetzt so für alle Ewigkeit zu verabschieden. Aber davon, jetzt noch einen Kaffee trinken zu gehen, wird es auch nicht besser. Ich bekomme seine Email, wir nehmen uns kurz in den Arm und gehen getrennte Wege. Trotz der wenigen Stunden, die wir zusammen verbracht haben, fühlt es sich außerordentlich beschissen an.
Es ist erst gegen 12, und meine Herberge (auch ich möchte zu El Resti, zumal meine nette Vorjahresherberge heute geschlossen hat) macht erst um 15.00 auf. Mit meinen reichhaltigen Mittagessenszutaten mache ich es mir auf einer kleinen Bank so richtig bequem. Bzw. der Wunsch ist Vater des Gedanken. So richtig bequem ist es auf der Metallbank nicht, die Bank ist kalt und bleibt es selbst mit meinen untergelegten diversen Fleece-Artikeln aus dem Rucksack. Es windet recht ungastlich, und mein Döschen Muscheln, auf das ich mich so gefreut habe, schmeckt einfach recht eintönig, leicht matschig und nicht wirklich lecker. Ich befreie meine Füße von den Wanderstiefeln; im Schuhe spüre ich eigentlich nie irgendeinen Schmerz, aber jetzt so bei genauerer Betrachtung tun mir die Sohlen wirklich sehr intensiv weh. Die Pelotte meiner Einlegesohlen erscheint mir viel zu hoch, es gibt bei jedem Schritt einen reißenden Schmerz. 3 Stunden in der Kälte auf der Bank scheinen mir nicht sehr vernünftig, eigentlich würde ich in der Zwischenzeit gern auf den Berg mit dem Castillo. Mit momentan übervollem Essensrucksack und den schmerzenden Füssen ist das aber keine besonders gute Idee. Ich bin einerseits frustriert, dass ich hier so tatenlos nutzlos rumsitzen muss, andererseits aber noch frustrierter davon, dass ich so Hummeln im Hintern habe und nicht einfach mal relaxen und abschalten kann.
Die geplante Herberge nehme ich in Augenschein, aber irgendwie wirkt sie mir nicht recht einladend (möglicherweise liegt es an meiner momentan etwas negativ gefärbten Weltsicht). Ich entscheide mich spontan um und gehe doch in die städtische Herberge, die in gelben Farben und sonnendurchflutet zugegebenermaßen sehr einladend daliegt.
Der Empfang ist nett und der Schlafsaal beeindruckend. Es gibt einen riesigen Raum mit hoher Decke, an dessen Seiten die Stockbetten stehen. Überall scheint die Sonne herein, irgendwie versöhnlich. Die Ruhe währt nicht lange, nach ein paar Minuten halten die mir bekannten Franzosen Einzug. Ich nehme es als Anlass, das wunderschöne Wetter (und meine Wanderkluft) noch zu nutzen und noch kurz zum Castillo zu laufen. Allerdings in Crocs, nachdem mir der bloße Gedanke an meine Schuhe schon weh tut. Ich brauche ein bisschen, bis ich den richtigen Weg finde. Es ist toll, die kleine Straße hinauf zu laufen und mit jedem Schritt noch mehr Aussicht und noch mehr Höhe zu gewinnen. Ich bin plötzlich wieder sehr ausgeglichen und zufrieden und frei. Wahrscheinlich geht es auch nicht anders bei so einer durch und durch wärmenden Sonne.
Das Castillo selber ist von der Nähe gesehen etwas enttäuschend, zumal man es nicht betreten kann (und mir in der Sonne bei dem trockenen Gestrüpp in meinen Crocs etwas anders wird. Irgendwie wittere ich Schlangen). Dafür ist die Aussicht in die Weite und der strahlend blaue Himmel beeindruckend. In der Ferne sehe ich auch San Antón und bin schon versucht, nachher nochmal kurz hinzulaufen. Ein Blick in den Führer sagt aber 6 km, also 12 km hin und zurück. Das scheint mir dann doch wieder sehr gesponnen und vermessen. Ich versuche mich zu ermahnen, es langsam angehen zu lassen und vor allem dieser inneren Unruhe nicht nachzugeben.
Der Abstieg (für den ich dann statt der Fahrstraße lieber den steilen, direkten kleinen Trampelpfad wähle) knüpft nahtlos an an das Thema „vermessen das Schicksal herausfordern“. Mit meinen Crocs fühle ich mich etwa so gut ausgestattet, als würde ich den Weg in High Heels absolvieren. Aber ich erreiche die Herberge ohne Schlangenbisse oder verstauchte Knöchel.
Ich schaue meine Fotos durch und bin positiv überrascht, wie hübsch meine Werke doch herauskommen, wenn man sie nicht bei blendendem Sonnenschein draußen anschaut. Um mich herum ist reges Pilgertreiben, fast alle Betten sind mittlerweile belegt. Mit der großzügigen Weite des Schlafsaales ist es vorbei, als anschließend Matratzen ausgelegt werden. Etwa 12 Extramatratzen später stellt sich ein eher beengtes Gefühl ein. Direkt vor meinem Bett logiert eine junge Koreanerin, die mit einem kleinen Lautsprecher Musik hört. Wie man auf so eine Idee kommen kann, ist mir schleierhaft, aber sie ist derart ungerührt, den ganze Schlafsaal zu beschallen, dass es mir die Sprache verschlägt. Ähnlich ergeht es mir mit meinem Lieblingsfranzosen, der etwa eine Viertelstunde in sein Handy brüllt, als wäre es ein Joghurtbecher-Schnur-Telefon. Wohlgemerkt an die Wand gelehnt, an der ein hübsches Bild mit einem durchgestrichenen Handy prangt. Ich schiebe es auf eine momentane Übersensibilität meinerseits. Ich gehe duschen, was allerdings keine allzu gute Idee darstellt, da das Warmwasser bereits aufgebraucht ist und das Ganze sich recht fröstelig gestaltet.
Neben den Koreanerinnen von gestern treffen auch die beiden Spanier ein – und es überrascht mich auch nicht weiter, dass zu guter Letzt auch mein heißgeliebter Girlie-Haufen Bravo-Themen wälzend auf den weiteren Extramatratzen um mein Bett Quartier bezieht. Mal wieder fühle ich mich ein klein wenig fehl am Platz und verziehe mich bändelknotend auf eine sonnige Stufe der Herberge, wo ich meine Ruhe habe. Angel setzt sich zu mir. Komischerweise verstehen wir uns wirklich sehr schlecht, er kapiert meine Fragen nicht und ich nicht seine Antworten. Soweit verstehe ich, das mit seinen Beinen wird nicht besser, er bricht ab und nimmt morgen den Bus heim. Auch erfahre ich, dass er nicht erst seit kurzem Frührentner ist, sondern sich sein Grubenunfall im Alter von 32 Jahren ereignet hat. Ich bin betroffen. Wir sitzen sicher eine halbe Stunde weitgehend schweigend nebeneinander in der Sonne, aber es fühlt sich besser an als jedes noch so seelenverwandte Gespräch. Irgendwann packt er seinen Geldbeutel aus und zeigt mir ein Foto von seinem durchaus süßen Enkel (gefolgt von seinem für meinen Geschmack nicht ganz so süßen Sohn). Sein dritter (und größter Stolz) ist ein Foto mit einer Art silbernen Platte, auf der ich kaum etwas erkennen kann. Es wäre die Jungfrau seiner Heimatstadt Murcia. Während ich erfolglos ein Gesicht darauf zu erkennen versuche, kramt Angel schon entschlossen in seinem Geldbeutel und überreicht mir das ausgesprochen abgegriffene und zerfledderte Bildchen. Das solle mir auf meinem Camino Glück bringen. Ich bin total geschockt, ich will doch nicht seinen liebsten Glücksbringer. Gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, ihm mit einem höflichen Ablehnen keinen Gefallen zu tun. So nehme ich es ehrfürchtig an. Der Camino ist schon verrückt. Da sitze ich mit einem etwas wild anmutenden, älteren Spanier wortlos in der Sonne, er mit einer kindlichen Bastelarbeit um das Handgelenk und ich mit einem Heiligenbild, und Freundschaft könnte sich nicht besser anfühlen.
Während die beiden Spanier Richtung Stadt und Abendessen gehen, packe ich mich warm ein und mache mich auf zur Messe. Dort treffe ich das nette, italienische Ehepaar von gestern wieder, die auch zum Gottesdienst wollen. Die Kirche ist aber abgeschlossen, sodass ich mich etwas geknickt wieder auf den Heimweg mache.
Zurück in der Herberge wird gerade eine weitere Extramatratze zwischen mein Bett und die koreanische Extramatratze geschoben, ein irischer Pilger stürmt herein. Ich beginne einen zaghaften Smalltalk über die tolle Strecke heute. Er läuft jeden Tag so 50 km und fand die Strecke heute auch ganz toll, in der Meseta könnte man so richtig schön viele Kilometer abspulen. Mir rutscht raus, dass das doch nicht der Sinn des Caminos ist. Fast schon aggressiv herrscht er mich an, dass jeder im Camino einen anderen Sinn sieht und findet und dass das sehr wohl der Sinn für ihn ist. Da hat er natürlich recht. Trotzdem reizt mich ein weiteres Gespräch nicht, vermutlich liegen unsere Konzepte zu weit auseinander.
Ich sitze mit den beiden Spaniern und dem Hospitalero zusammen, bzw. ich sitze recht unbeteiligt dabei, während diese sich sehr hitzig aufregen. Es geht um die Problematik des Donativos. Ich bin mittlerweile froh, dass die Herbergen in Galizien einfach einen festen Betrag erheben, denn auch bei mir sorgt es immer wieder für eine kleine Missstimmung, wenn es um die Höhe der Spende geht und was manche Pilger für angemessen halten. Um es mit den Worten des Iren zu sagen, auch da hat natürlich jeder ein Recht auf freie Gestaltung, wegen mir kann auch wirklich jeder so wenig spenden, wie er mag. Weil er geizig oder sparsam ist oder nicht mehr hat. Dass eine „heruntergekommene“ Herberge nur 50 Cent oder einen Euro „verdient“, verhagelt aber auch mir immer die Stimmung. Hier regen sich die Spanier aktuell sehr intensiv über die finnische Gruppe auf, die rein gar nichts gespendet hat, aber bereits die Hälfte des Donativo-Frühstücks von morgen als Abendessen verputzt hat. Ich weiß gar nicht, um welche finnische Gruppe es überhaupt geht. Domingo schnaubt „na, die mit den jungen Mädchen!“. Ich weiß nicht, welche er meint, „na, die auch gestern schon in Hornillos waren, die mit den Betreuern!“. Recht eindeutig scheint er meinen heißgeliebten Hühnerhaufen zu meinen, aber wie um alles in der Welt kommt er nur darauf, dass sie aus Finnland sind? Sie hätten es ihm erzählt, ganz sicher; dass sie über Helsinki geflogen sind und und und. Ich denke noch, dass sie ihn wohl ganz schön verarscht haben, aber registriert sind sie wirklich mit finnischen Credenciales. Einer der Betreuer (der nie ein Wort sagt) trägt wirklich einen sehr finnischen Namen, seine Gattin folglich zumindest einen finnischen Nachnamen. Nun gut, man kann sich also wirklich inbrünstig über die Spendenpraxis der Finnen aufregen.
Ehrlichgesagt regen mich aber auch Donativo-Hospitaleros auf, die jede Spende akribisch beäugen und bejammern, sodass ich froh bin, als die Tür aufgeht und zögerlich eine schmale, ältere Dame mit einem Gesicht wie Pergament und Porzellan hereinschaut. Erleichtert freut sie sich über noch ein freies Bett bzw. eine weitere Extramatratze (und ich bin mal wieder fasziniert, wie man bis 21.00 laufen kann, zumal es momentan recht früh dunkel wird). Später kommen wir ins Gespräch. Sie kommt aus Neuseeland, läuft den Camino zum zweiten Mal, genießt und nutzt den Tag in voller Länge – und schafft dadurch auch täglich 40 km. Jeden Tag stelle ich mir das extrem anstrengend vor. Sie lächelt, nein, es wäre ja nur laufen. Ich meine „na ja, laufen mit einem hübschen Gewicht auf dem Rücken“. Sie sagt, sie hätte eben einen sehr leichten Rucksack, 4 kg. Das finde ich fast noch schwerer vorstellbar als die 40 km. So viel wiegt ja schon mein Rucksack samt Schlafsack. Nachdem sie weiß, dass ich erst in Burgos gestartet bin, hält sie mich für ein komplettes Greenhorn und erklärt mir (mit Blick auf meinen imposanten Riesenrucksack), dass man eben Gewicht sparen müsste. Sie würde nur einen Satz Wechselkleidung mitnehmen, auch nur Waschzeug in Minigrößen… ich bin fast frustriert, denn das mache ich ja eigentlich auch. Und ich bin ein bisschen frustriert, dass man theoretisch auch mit einem Handtäschchen (so sieht ihr Leinenbeutel nämlich aus) fröhlich gelassen seine 40 km abtippeln kann, während ich mich wie eine tonnenschwere, schweratmende Mischung aus Walross und Dampfwalze in Erinnerung habe.
Wir sitzen ein bisschen zusammen im kleinen Vorräumchen, ich habe wieder die ungemütliche Aufgabe, irgendwann klarstellen zu müssen, dass ich nicht zum ersten Mal laufe. Leider beginnt fast jedes Gespräch mit „von wo bist Du gestartet?“, gefolgt von einem gutgemeinten, schwer zu stoppenden Redeschwall und Anfängertipps zu Blasen, Gepäck, Wetter… – beendet von einer betretenen Stille, wenn ich nach ein paar Minuten zaghaft einspreche. Auch das „von Burgos, aber ich bin früher schon den Camino gegangen“ bewährt sich nicht, jeder fragt nach, von wo nach wo genau, und weicht ehrfürchtig erschreckt einen gefühlten Meter zurück. Ein anderer Mensch bin ich dadurch doch auch nicht. Meine misstrauische Ader vermutet, dass sich meine Gegenüber spontan fragen, was mit dieser doch eigentlich ganz harmlos aussehenden Pilgerin schief gelaufen sein mag.
Die Neuseeländerin trägt es zumindest mit Fassung. Sie schaltet um auf „Vertrautes Gespräch zwischen zwei erfahrenen Pilgern“. Sie hat etwas sehr weises an sich, scheint auch viel Ruhe und Balance im Leben gefunden zu haben, obwohl sie Regisseurin ist und einen extrem gefüllten Terminkalender hat, geschäftlich in Europa ist und die 2 Wochen Camino nur ganz geschickt zwischenrein eingeschoben hat. Ihr Alter ist mir durchaus rätselhaft. Bei näherer Betrachtung wirkt sie nicht einmal über 40, auch wenn die Gesichtshaut eine andere Sprache spricht. Wir reden gut eine Stunde, und auch wenn sie grundsätzlich recht reserviert alles im Griff hat und ihr Porzellan-Pokerface trotz aller Freundlichkeit immer ein Rest verschlossen bleibt, tut das Gespräch sehr gut.
Kurz vor 10 füllt sich die Herberge schlagartig, alle kommen vor Torschluss vom Essen zurück. Domingo nimmt mich vertraulich zur Seite und erklärt mir mit flehentlichem Gesichtsausdruck, dass Angel ja morgen heimfährt, und dass dann doch sicher wir zusammen weiterlaufen. Er nickt dazu bereits bittend. Mir tut es leid, ihn so flehentlich zu sehen, aber andererseits ist Pilgern mit Domingo das allerletzte, was ich brauchen kann. Zusammen Laufen ist ja schon schwierig genug, aber mit seinem ständigen Geplapper und Gespasse und „eigentlich passen wir doch ganz prima zusammen“, es geht wirklich nicht. Zum Glück schaffe ich es, ihm das ehrlich zu kommunizieren. Er nickt betroffen und verständig. Er meint, er will jetzt eh nicht mehr alles laufen, er denkt, er nimmt einen Bus, um sich dann vielleicht noch Astorga anzuschauen. Bei mir schrillen schon wieder alle Alarmglocken. Das plötzliche kulturelle Interesse nehme ich ihm nicht ab, dafür hat er auch zu oft detailliert gefragt, ab wo ich den Bus nehme. Meine letzte Hoffnung ist, dass er nicht weiß, wie früh der Bus in Carrión de los Condes abfährt. Ich fühle mich einerseits mies, ich könnte hier sehr leicht jemanden glücklich machen, andererseits sträubt sich aber schon seit jeher alles in mir. Domingos Art tut mir nicht gut, sie ist zu vereinnahmend. Er hat das Gefühl, ich müsste in jedem Moment heiter lachen, dabei will ich nur meine Ruhe und in mich hineinspüren und für mich allein sein. Und heiter zum Lachen hat mich ein David gebracht, oder innerlich zum Strahlen Angel, aber von 10 mal hintereinander „was geht? Alles klar?“ lassen sich meine Mundwinkel nur mühevoll hochziehen.
Der Ire neben meinem Bett stürmt vom Abendessen herein; beeindruckenderweise kickt er seine Schuhe elangeladen in die Ecke und haut sich in voller Montur ohne Schlafsack auf die Matratze, rollt sich ein und schnarcht nach ein paar Minuten.
Während ich noch etwas bedröppelt wegen Domingo bin, mache ich mich bettfertig und liege schon ohne Linsen und mit Ohrstöpseln halb schlafend im Bett, als mich Domingo nochmal wachrüttelt und mir -„alles klar?“- eine gute Nacht wünscht. Es geht wirklich nicht.