Den gestrigen Vorsätzen zum Trotz starte ich wieder in aller Frühe. Meine erste Hürde meistere ich problemlos – nämlich den Hund eines Mitpilgers, der nicht mit in die Herberge durfte und der die ganze Nacht friedlich auf der Türschwelle zur Herberge gewartet hat. Entsprechend gut erzogen guckt er mich jetzt also auch nur verwundert an, als ich zittrig über in drüberstapfe (und jeden Moment damit rechne, dass er mich wild kläffend in die Herberge zurücktreibt).
Zum Sonnenaufgang bin ich in Azofra, wo sich vor der dortigen Herberge schon die startbereiten Pilgersilhouetten abheben. Ich treffe auch wieder die beiden Schwaben, die noch etwas verschlafen ihre erste Zigarette des Tages rauchen, während ihr tschechischer Mitpilger noch oben am Packen ist. Ganz generell freue ich mich schon, überhaupt bekannte Gesichter zu sehen, nachdem ich durch meine kleinen Etappen eigentlich alle immer ziehen lassen muss. Aber die beiden Schwaben sind darüber hinaus ein Fall für sich. Beide sind immer höflich, immer lustig, immer am Strahlen. Sie erinnern mich an den Sonnenaufgang über den Sonnenblumenfeldern, sie strahlen und leuchten und versprühen eine recht besondere Helligkeit. Ich bin mir nur nicht immer so ganz sicher, was sie von mir denken. Nach ein paar Minuten heiterem Plaudern überkommt mich immer die Ahnung, dass sie vielleicht einfach nur liebend gern in Ruhe ihre Zigarette fertig rauchen würden.
Bevor der Tscheche sich dazugesellt, mache ich mich somit wieder auf den Weg. Heute bin ich schnell unterwegs, seit langem floate ich mal wieder. Die gestrige lange Etappe hat gut getan und mir ein gewisses Vertrauen in meine Lauffähigkeit zurückgegeben. Die heutige Etappe ist kurz, knappe 20 km, sodass ich noch vor Mittag an meinem heutigen Tagesziel Santo Domingo de la Calzada ankomme. Das Laufen nach Vernunft und Plan frustriert mich ein bisschen, ich fühle mich immer wie mit angezogener Handbremse, aber wenn ich nicht viel zu früh in Burgos ankommen will, stehen jetzt einfach einige 20 km – Etappen auf dem Programm. Auch heute hadere ich damit, eigentlich noch etwas mehr laufen zu wollen. Die Herberge in Grañón, noch dazu mit Aussicht auf die Gesellschaft der Schwaben, ist reizvoll, aber dann hätte ich für den Folgetag etwas um die 15 km, und das geht wirklich gar nicht.
So begebe ich mich in die historische Herberge, mit deren riesigem Schlafsaal ich nicht die besten Erinnerungen verbinde. Der Hospitalero erklärt mir umständlich den Weg in den Schlafsaal, und ich möchte fast schon sagen, dass ich den Weg kenne, da fällt mir auf, dass es wo anders hin geht. Ich schraube mich zwei Etagen eine steinerne Wendeltreppe hinauf, es wird immer enger und verlassener, dass ich den Eindruck bekomme, irgendwie falsch zu sein. In luftiger Höhe kommt dann plötzlich doch noch ein Raum mit einem großen Tisch und einer kleinen Küche, unzähligen verwinkelten Holzbalken in der Dachschräge, und einem kleinen Schlafsaal, ebenfalls wieder halb unter der Dachschräge verborgen. Es hat lauter Einzelbetten, in kleine Abteile zu vier abgeteilt, und die Atmosphäre ist ganz speziell. Irgendwie sehr persönlich, historisch, verwinkelt und durch die Höhe auch irgendwie erhaben. Ausser mir ist schon ein kleiner, älterer Mann am Auspacken, den ich schon mehrfach gesehen habe. Er entpuppt sich als französischsprachiger Kanadier, der aber ziemlich schnell vor sich hinredet und ein klein wenig entrückt wirkt. Vor allem geht er sehr schnell und sehr früh los. Vor 12 ist er meistens da, und meist hat er um diese Zeit schon über 25 oder 30 km heruntergespult.
Ich spule aber erstmal den Weg zu einem Supermarkt herunter, bzw. frage mich munter durch. Nichts macht mehr leuchtende Augen, als wenn ich auf die zaghafte Frage, ob es wo einen Mercado hat, die blumige und weitausholende Richtungsweisung zu einem großen, großen Supermercado erhalte. So verbirgt sich auch hier hinter einem unscheinbaren Seiteneingang ein riesiger Eroski-Supermarkt, welcher mich mit seiner Auswahl wie üblich erschlägt und überfordert. Ich kaufe Eier, Thunfisch und die wunderbaren grünen Minipaprika; mir steht ein Festmahl wie selten zuvor bevor.
Ich koche in der kleinen Küche, in der es schon zu Mittag lebhafter wird. Eine junge Katalanin und ein holländischer Polizist versuchen sich auch etwas warmzumachen, eine lustige Schatzsuche nach Pfannen, Feuerzeugen, Dosenöffnern und Salz beginnt. Beide sind nett und unterhaltsam. Ich freue mich sehr, endlich mal jemand Spanischsprechendes zu treffen. Ich habe das Gefühl, bisher mehr Englisch und Deutsch gesprochen zu haben. Auch die Katalanin wirkt glücklich, sie erzählt etwas verschüchtert, dass sie eigentlich schon auch mehr Spanier hier erwartet hätte, sie hätte noch nie einen spanischen Pilger getroffen, den ganzes Weg bisher.
Ich fühle mich unerklärlicherweise ziemlich wunderbar in dieser Herberge, über den Dächern der Stadt, mit den vielen verwinkelten Holzbalken, auf dieser massiven, schweren Holzbank. Es ist ein reges Kommen und Gehen von Pilgern, es hat anscheinend noch mehrere kleine Schlafzimmer, die nun bevölkert werden. Viele Gesichter kommen mir ein Stück weit bekannt vor, wir haben uns irgendwo schon mal gesehen. Wieder einmal bin ich beeindruckt von der Unberechenbarkeit des Caminos. Der erwartete Schlafsaal scheint gar nicht mehr in Gebrauch bzw. im Umbau befindlich zu sein; statt dessen habe ich hier so ein kleines Juwel bekommen.
Für den Moment nimmt eine höchst rüstige Vierergruppe von älteren Französinnen neben mir Platz. Sie bieten mir diverse Tees und Kekse an, alles in unzählige Plastikbeutel sauber verpackt. Sie haben sogar einen Tauchsieder und Cappuccinopulver dabei. Die eine meint lachend und entschuldigend, dass sie eben zu alt wären, alles selber zu tragen, und sich daher das Gepäck von einem Transport befördern lassen. Und wenn schon, dann richtig.
Ebenfalls französisch geht es weiter mit dem Besitzer des großen Hundes heute morgen auf der Schwelle der Herberge. Der Hund ist diesmal gut im Garten versorgt, und das Herrchen dazu in meinem Alter hat deutlich Redebedarf, zumal er nur französisch zu sprechen scheint und damit (und mit dem Hund) recht einsam ist. Zwar hatte ich lange Jahre in der Schule Französisch, nicht einmal mit schlechten Ergebnissen, aber alles liegt derart weit zurück, dass ich keinen halben Satz gerade herausbringe. Ich verstehe zwar ziemlich alles, aber meine Rückmeldungen sind derart holprig und dürftig, dass man sich das wohl schwer vorstellen kann. Jean-Philippe scheint diese seltene Vorstellungsgabe zu haben, er erzählt in aller Ruhe alles mögliche, und es ist ein lustiges Gefühl, plötzlich so ins Französische abzutauchen. Ich bekomme Einblicke in das Pilgern mit Hund, das bedeutend anstrengender ist, als ich mir vorgestellt hätte. Schlafplätze sind nicht einfach zu finden. Der Hund darf selten mit in die Herberge oder in einen Garten, und nicht einmal das Vor-der-Tür-Warten wie in Nájera wird überall erlaubt. Oft würden sie zusammen irgendwo draußen auf dem Feld übernachten. Sein Hund würde unheimlich viel Schlaf brauchen, bei jeder Trinkpause seines Herrchens würde er ein kurzes Tiefschlafhäppchen einbauen. Seine Pfoten wären empfindlich, man müsste immer viel Rücksicht nehmen. Vor allem fehlt Jean-Philippe der Austausch mit anderen Menschen; manchmal geht er tagsüber in eine Herberge und erst zur Nacht mit dem Hund einen Schlafplatz suchen, um wenigstens ein bisschen Ansprache zu haben. Ihn bewegen viele Gedanken, Sorgen und Überlegungen, er redet fast 2 Stunden ohne Unterbrechung. Ich kann alles sehr gut verstehen und nachempfinden. Leider kann ich es nicht in Worte fassen, aber ich hoffe, er versteht es vielleicht auch so.
Ein ungewöhnlicher Pilger sitzt schachspielend in der Ecke; mit langem Bart, langen Haaren und gut 2 Metern Körpergröße gibt er eine beeindruckende Erscheinung ab. Er erinnert mich nicht allzu entfernt an Hagrid aus Harry Potter, und für den Anfang soll ich mal mit ihm Schach spielen. Das habe ich zuletzt als gefühlt Vierjährige gemacht. Jedes Spiel war gleich, ich hatte alle Hände voll zu tun, die Figuren auseinander zu halten und die unterschiedlichen Bewegungsmöglichkeiten zu sortieren – und gegen die stundenlangen, taktischen Überlegungen meines älteren Bruders hatte ich natürlich ohnehin nie eine Chance. So hält sich jetzt meine Begeisterung auch in Grenzen. Die fachkundigen Kommentare einiger älterer Pilger bescheinigen mir wenig schmeichelhaftes, umso erstaunter bin ich, als ich nach einer halben Stunde völlig unerwartet einen Matchball zum Schach Matt habe. Ich bin überrascht; vor allem aber das norwegische Trumm von einem Mann ist völlig von der Rolle, wie er jetzt von einem unscheinbaren Mädchen mit der Taktik und dem Ernst einer Vierjährigen geschlagen werden konnte.
Im Lauf des Nachmittags treffe ich den Schweden aus Cirauqui wieder; er ist netter, als ich damals im ersten Moment vermutet hätte. Er ist Professor für diverse Sprachen, spricht fließend Deutsch und Englisch und war auch schon vielerorts auf der Welt zu Hause. Wir sitzen zu viert zusammen, die Katalanin, der Holländer, der Schwede und ich, eine lustige internationale Komposition.
Beim Abendessen sitzen auch die beiden blonden Grazien mit am Tisch, die ich am allerersten Abend in Roncesvalles so eindrücklich getroffen habe. Diesmal sind sie etwas leiser und bedrückter als damals. Ihr Camino ist morgen bereits zu Ende, und als mir ein typisches „schade!“ entweicht, drucksen sie etwas herum. So ganz schade wäre es nicht, es wäre irgendwie der Wurm drin gewesen. Eine der beiden hatte Probleme mit den Schuhen und ist ab dem zweiten Tag in Crocs gelaufen. Vor allem aber wird deutlich, dass nicht beide das gleiche vom Camino erwartet oder zurückbekommen haben. Recht offen erzählt die eine, dass sie eben gern wandert und draußen ist, auch schon vorher mal auf dem Camino war. Jetzt hätte sie diese Erfahrung mit ihrer Freundin teilen wollen, aber diese ist eben nicht gleichermaßen aufgeblüht und begeistert gewesen. Sie sehnt sich mal wieder nach einem sauberen Hotel, nicht jeden Tag von neuem Wanderstress. Sie schauen ein bisschen aneinander vorbei, als die eine sagt, sie würde vielleicht in Zukunft doch lieber wieder in einem Hotel Urlaub machen. Beide wirken irgendwie jämmerlich und kleinlaut. Sie tun mir ein Stück weit leid, aber natürlich muss es auch das geben. Enttäuschungen oder einfach auch, dass der Camino und das Pilgern nicht für jeden das Höchste sein können.
Beim Kochen werkle ich noch mit einem Italiener und treffe eine kleine, sonnige Schweizerin aus dem Welschland. Sie ist irgendwie speziell, von ganz zarter Statur, frisch nach dem Abitur. Sie hat ein Gesicht voller Sommersprosse, blonde Haare wie eine Sonnenblume, sie lächelt schüchtern und leise und wandelt irgendwie ganz für sich durch die Pilgergemeinschaft, allerdings auch, ohne irgendwie einsam oder unwohl auszusehen. Ich spreche ein paar Minuten mit ihr. Sie ist aus der Schweiz zu Fuß gestartet, sie ist seit 3 Monaten unterwegs, und alles ist ganz still und ruhig und lächelnd und nachdenklich und schicksalsergeben. Es lässt sich schwer in Worte fassen, aber sie hinterlässt einen ganz starken, bleibenden Eindruck bei mir.
Der heutige Tag war eindrucksvoll. Unerwartet und unheimlich reich an vielen verschiedenen Kontakten. Ich gebe der Schweizerin ein Armbändel, worauf sie mich überraschenderweise umarmt. Auch die Katalanin freut sich. Ein Tag voller Unbekannter, die in meinem Leben aufgetaucht sind und morgen genauso schnell wieder verschwinden. Heute fühlt es sich ohne Wehmut an, es waren keine Kontakte für eine bleibende Freundschaft, meistens konnte ich mich ja nicht einmal sprachlich ausdrücken. Aber trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen auf so beeindruckende Weise) ein selten reicher Tag.