Vor lauter Bauchweh und Sorgen schlafe ich fast überhaupt nicht. Irgendwann um 4 Uhr morgens kommt mir die geniale Idee, dass es sich statt einer fulminanten Magen-Darm-Infektion auch einfach um ein monatlich wiederkehrendes Problem handeln könnte. Dieses lässt sich dann erstaunlich einfach mit einer Schmerztablette aus der Welt schaffen, sodass ich dann doch noch drei Stunden beruhigt zum Schlafen komme.
Um 7 sind die Dänen schon am Packen. Ich entscheide mich für das reichhaltige Frühstücksbuffet. Ich mache mich auf die Suche nach dem frischen Brot, welches gerade in dem Moment mit quietschenden Reifen geliefert wird, als ich durch die dunkle Rezeption tappe. Wieder einmal schränken meine Fastengrundsätze das Frühstück ziemlich ein. Heute tut es doppelt weh, denn es hat sogar eine richtig edle Espresso-Maschine. So esse ich eben Unmengen Baguette mit Marmelade und trinke zwei Schalen voll Tee. Hier in Gernika ist zum ersten Mal so richtiger Pilgertrubel, gut 10 Leute packen und frühstücken schon in aller Frühe. Und auch die diversen längeren Gespräche am Nachmittag waren irgendwie wohltuend.
Ich mache mich als erste auf den Weg. Irgendwie habe ich keine Peilung, in welche Richtung es überhaupt weitergeht, so ganz am Camino scheint die Herberge gar nicht zu liegen. Ich frage die wenigen Spanier, bis sich ein älterer Herr findet, der irgendetwas vor sich hinbrummelt und in eine bestimmte Richtung zeigt. Ich bedanke mich, aber er grummelt und läuft mit. Alle 10 m erklärt er, dass es da weiter geht, dass der Camino ihn aber also wirklich nicht interessiert. Ich sage immer wieder, dass ich dann jetzt glaube ich schon klarkomme, aber er hört gar nicht zu und grummelt nur, dass also der Camino, nein, ihn wirklich nicht interessiert. Irgendwann grummelt er zum Glück, dass er da jetzt in eine Bäckerei geht, was mich erleichtert.
Irgendwie habe ich heute Probleme mit der Ausschilderung. Ich laufe mit meinem Führer in der Hand und lese an jeder Straßenecke nach, was es auch nicht viel besser macht und irgendwie eine gewisse Unruhe hineinbringt. Gestern bin ich ja gleich am Ortseingang zur Herberge abgebogen und habe den Ortskern von Gernika überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe einen Hauch von schlechtem Gewissen, an allen Sehenswürdigkeiten und historischen Orten einfach so vorbeizupilgern. Und lieber begeistert Mikrowellentee zu trinken oder Supermärkte zu bestaunen, als am Nachmittag noch ein bisschen Kultur zu genießen.
Der Weg führt mal wieder stundenlang durch halbschattige Wälder, und zum wiederholten Male denke ich darüber nach, ob ich diese Art von Camino wirklich noch brauche zum Glücklichsein. Es ist nicht schlecht, aber irgendwie ist es auch nicht direkt besonders. Wie immer laufe ich allein. Einerseits schätze ich die Ruhe und Freiheit, andererseits kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht auch deswegen ein wenig langweilig ist. Irgendwie ist niemand dabei, mit dem ich jetzt gerne stundenlang zusammen laufen würde (vielleicht von Frans abgesehen, wobei ich befürchte, dass er irgendwo mit größeren Knieproblemen hinter mir ist). Ich überlege, ob es an den Pilgern liegt oder ob sich einfach in den letzten Jahren meine Ansprüche etwas hochgeschraubt haben. Wer nicht gleich im ersten Moment mein Herz und meine Sympathien erobert, fällt fast schon durch mein Aufmerksamkeitsraster. Mir fallen die Bachblüten Beech und Water Violet ein. Beech, die auf Grund von kleinen Unzulänglichkeiten schnell ein kritisches Urteil fällt und eigentlich schon ziemlich arrogant das Gefühl hat, alles besser und richtiger zu machen. Und Water Violet, das hübsche Blümchen, welches in der Mitte eines Sees wächst, an einem langen Stiel, alle anderen Pflanzen überragend. Welches seine Ruhe und Privatsphäre schätzt und gar nicht unglücklich über eine gewisse Distanz ist – sich dann aber manchmal doch etwas einsam und allein in seiner elitären Einzelstellung fühlt. Ich muss an Maike denken, die einfach mit jedem hier auf dem Camino ein Gespräch anfängt, auf jeden Menschen zugeht und die die unterschiedlichen Bekanntschaften als Bereicherung empfindet, unabhängig davon, ob es nun ihre besten Freunde werden oder sie bahnbrechende Sympathien verspürt. Eigentlich ist das doch gerade das Schöne und Besondere am Camino. Ich bin etwas nachdenklich. Ich könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich gerne eine Water Violet wäre oder lieber im Einheitsgrün unter tausenden anderen Grünpflanzen am Ufer wachsen wollen würde. Und ich weiß erst recht nicht, was eine kritische, arrogante Beech-Water Violet- Mischung anstellen könnte, um sich in dem Einheitsgrün ganz ehrlich und von Herzen wohl zu fühlen.
Auf einer Wiese trennt sich plötzlich der Weg. Zwischen den Abzweigen liegt der typische steinerne Wegzeiger auf dem Boden. Würde er stehen, würde der Pfeil nach links zeigen. So, wie er nun liegt, zeigt der Pfeil geradeaus, also eher auf den rechten Weg. Ich bin ein wenig unentschlossen. Nachdem der Stein aber nicht umgefallen aussieht, sondern so, als würde er schon seit Monaten so liegen, beschließe ich, dass es sich bei dem Pfeil nach links um eine Fehlmarkierung gehandelt hat und man den Stein deswegen einfach um 90° gedreht hat. So laufe ich also den rechten Weg weiter. Ich bin etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ich an eine Straße mit Wegzeigern komme. So richtige Caminozeichen hat es nicht, und der Ort, der in ein paar Kilometern kommen soll, findet sich auch nicht wirklich auf meiner Karte. Irgendwann finde ich ihn dann doch – zu meinem Schrecken absolut fern des Caminos, irgendwo zurück in Richtung Gernika. Nicht nur, dass ich den falschen Weg genommen habe, ich befinde mich auch nach ein paar Stunden gerade noch in der oberen rechten Ecke meiner Karte. Ich habe ungefähr 1 cm der heutigen 15 cm bis nach Bilbao geschafft. Ich laufe meinen Weg zurück. Ein junger Mann begegnet mir, nein, nein, der Camino wäre das nicht. Es hätte da so eine Abkürzung mit einer Markierung. Du Witzbold. Zurück an der Markierung steht der Stein plötzlich wieder aufrecht, und in der Ferne sehe ich etwa 5 Pilger wie Perlen auf einer Schnur. Ich ärgere mich ziemlich über mich selber und warum ich gerade an einem langen Tag wieder Extrarunden drehen muss.
Trotzdem bin ich heute erstaunlich schnell unterwegs. Zwischendurch überhole ich die Dänen mit den Essigkanister-Rucksäcken, die wild schnarchend in einem Feld am Weg schon wieder Siesta halten. Meine größere Pause verschiebe ich auf Lezama nach offiziellen 5 1/2 Stunden. Unter Einberechnung meines kleinen Extratrips bin ich heute gar nicht so viele Stunden wie sonst über der Zeit. Wie üblich lüfte ich meine Füße, befrage meine Beine zu ihren Wünschen und konsultiere meinen Führer. Heute gibt es seit langem mal wieder etappentechnische Entscheidungen zu treffen. Wie schon seit Wochen im Voraus sind mir die Etappen hinter Bilbao ein unlösbares Rätsel. Die Herbergen in Portugalete (nach 3 Stunden) und in Pobeña (nach 6 Stunden) machen erst später im Jahr auf. Und hinter Pobeña hat es 6 1/2 Stunden bis Castro Urdiales keine Herberge mehr. Portugalete verfügt immerhin über Pensionen. Somit kreisen mir recht wild lauter wenig verführerische Varianten im Kopf herum. Um eine 36 km Etappe von Portugalete bis Castro Urdiales scheine ich nicht herumzukommen. Eine milde Variante wäre, heute in Lezama zu stoppen und morgen nach Portugalete zu gehen, um meinen Rückstand am Tag drauf dann wieder einzuholen. Wobei mich diese 36 km irgendwie jetzt schon absolut überfordern und mich halb weinerlich machen. Und so richtig stressen mich die drei Etappen zum Schluss meiner zwei Wochen, 38, 34 und 42 km. Die 42 km mit veranschlagten 12 Stunden treiben mir definitiv die Tränen in die Augen, ich schaffe das einfach nicht und habe mal wieder nur Angst. Als eine rettende Variante hat sich in den letzten Tagen die Option etabliert, dem Rat von meinem irischen Mitpilger Patrick zu folgen, ab Bilbao die Metro nach Portugalete zu nehmen, es wäre eh nur hässliches Industriegebiet. Und wenn ich hinterher noch die Hammeretappe nach Castro Urdiales schaffe, habe ich einen Tag aufgeholt und sehr viel Druck weniger. Allerdings weiß ich nicht, ob morgen (Sonntag) überhaupt eine Metro fährt – und was mache ich, wenn vielleicht erst um 11 eine fährt. Mein Hirn rotiert wie wild lauter unerfreuliche Optionen und Varianten. Die beruhigende Stimme in mir, die mich erinnert, dass ich hier ja aus Freude auf dem Camino bin und mich überhaupt nichts und niemand zwingt, auch nur irgendein Zeil zu erreichen, wird völlig überrollt.
Die beiden Dänen überholen mich wieder, sie wollen in Lezama bleiben und suchen die Pension. Ich verkünde motiviert, noch bis Bilbao zu wollen. Sofern überhaupt noch Gedanken in meinem Kopf Platz haben, dämmert mir aber spätestens am Ortsausgang, dass es eine Schnapsidee ist. Es ist recht heiß, und meine Beine sind rein überhaupt nicht mehr frisch. Sie sagen bereits jetzt „Überforderung, Paaaaause“. Der Weg geht absolut stupide am Randstreifen einer endlosen, staubigen Straße entlang. Ich fühle mich wie in einem Western, während ich mich in brütender Hitze in praller Sonne mühsam an um diese Zeit menschenleeren Orten vorbeischleppe. Erschwerenderweise verläuft direkt neben der Straße eine Schienenstrecke. Alle paar Minuten laufe ich an einer Haltestelle vorbei, an der verführerisch „Bilbao“ ausgeschildert ist. Alle Viertelstunde tuckert ein Vorortzug an mir vorbei, und in meinem Kopf festigt sich nun der Gedanke, warum ich nicht einfach den Zug nehme. Dummerweise kämpfe ich nicht nur gegen Bequemlichkeit und fehlende Motivation, sondern auch mein Verstand favorisiert diese Möglichkeit. Laut meinem Führer kommt vor Bilbao nochmal ein hübsches Hügelchen, und das ist einfach Wahnsinn in Anbetracht meiner jetzt schon sehr nachhaltig ziehenden Waden. In Zamudio passiere ich völlig unentschlossen eine letzte Haltestelle, aber wie so oft, wenn ich keinen klaren Gedanken fassen kann, laufen meine Füße einfach mechanisch weiter. An einer Kirche betanke ich nochmal alle drei Flaschen mit Wasser, überquere die Autobahn und bin dann schon wieder in kompletter hügeliger Einsamkeit.
Ich habe einen totalen Overflow von Gedanken, während mein Körper einfach weitergeht. Ich bin ein Stück weit geschockt, wie mich eine Metro überhaupt so in Versuchung führen kann. Die morgige Metro, gut, die liegt entschuldbar in den fehlenden Herbergen begründet. Aber wie kann es so weit kommen, dass mir plötzlich gar kein logischer Grund in den Sinn kommt, der dagegen spricht, eine ungemütliche Etappe einfach abzukürzen?
Ich brauche wieder eine Pause, vertröste mich aber immer auf „dann oben auf dem Berg“, was sich natürlich wieder endlos zieht. Irgendwann habe ich dann endlich Blick auf Bilbao – einen höchst demotivierenden Blick. Die Unmengen Häuser liegen in einem diesigen Dunst, und vor allem liegen sie unheimlich tief. Ich bin schon viel zu lange gelaufen, der Berg war schon anstrengend genug, und nun auch noch ein langer Abstieg. Ich bin ziemlich überzeugt, dass ich damit alles ruiniere, aber wie so oft, das mechanische Weiterlaufen übernimmt die Steuerung. Ich mache nochmal eine lange Pause und hypnotisiere meinen Führer in der Hoffnung auf irgendwelche ungeahnten guten Neuigkeiten. Statt dessen lese ich, dass die Herbergen nicht am Weg liegen und man irgendwelche Busse nehmen muss. Also morgen nicht nur eine späte Metro nach Portugalete, sondern vermutlich erst noch ein später Bus zur Metro. Mir kommt der glänzende Gedanke, mich nicht erst mit einem Bus durch Bilbao zu wühlen, sondern gleich heute noch die Metro nach Portugalete zu nehmen. Diese Aussicht beruhigt schon ganz viele andere Szenarien und gibt mir wieder einen Hauch von Sicherheit.
Den Berg hinunter schaffe ich in bekannter grenzenloser Langsamkeit und habe dann unten in Bilbao keinerlei Plan, wo ich denn nun überhaupt hin soll und wo es eine Metro geben könnte. Ich trabe wieder einfach endlos den gelben Pfeilen nach, passiere eine Kirche und erreiche eine Art großen Platz. Heute habe ich überhaupt keinen Nerv für Fotos, dabei ist Bilbao unerwartet hübsch und fotogen. Die Straßen quellen über von Spaniern in fröhlicher Wochenendlaune und haufenweise Jugendlichen, die alle wie Tokio Hotel aussehen. Ich fühle mich ähnlich ansprechend wie ein Ratte, während ich ziellos in meinen verkrusteten Schuhen durch die Gegend stolpere. Plötzlich ist es auch recht windig, sodass ich trotz Sonne meine Fleecejacke anziehe. Vor allem hier in so einer größeren Stadt fühle ich mich erst recht unpassend und absolut unwohl.
Ich frage eine ältere Frau nach einer Metro. Sie guckt mich völlig entgeistert an und wiederholt ungläubig „Metro?Metro?!“, sodass ich schon den Eindruck bekomme, dass es dieses Wort auf Spanisch gar nicht gibt. Irgendwann strahlt sie dann doch und sagt, klar, Metro, zum Beispiel gleich hier auf dem Platz hätte es so eine XYZ, und sie macht eine Handbewegung, als würde es sich bei einer Metrostation um eine Telefonzelle handeln. Ich umrunde den Platz einmal und halte nach irgendeiner Kabine Ausschau, als wäre es ein Harry Potterscher Portschlüssel. Naheliegenderweise finde ich nichts, weiß aber auch nicht so recht, was ich machen soll, sodass ich schon wieder ziellos im Automodus einfach irgendwelche Straßen entlanglaufe, in der vagen Hoffnung, irgendwann auf etwas zu treffen, was mich schlauer macht und mir irgendeinen Ansatz bietet. Aktuell hoffe ich, irgendwann auf den Fluss zu treffen, an dem es dann irgendwo eine Touristeninformation geben soll. Den Fluss habe ich irgendwann, aber eine Touri-Office finde ich nicht. Also frage ich lieber mal wieder einen Passanten. Er meint, puh, ja, Portugalete. Wo soll er mich da jetzt hinschicken. Nach reiflicher Überlegung erklärt er mir einen Weg durch die Gassen, an dem ich irgendwann an einem Platz rauskommen würde, wo es die passende Metrostation hätte. Es überrascht mich nicht wirklich, als ich nach fast einer Stunde Irrwegen durch Bilbao wieder an dem ursprünglichen Platz lande, den ich nun wohl oder übel nochmal unter die Lupe nehmen muss. Und wirklich, plötzlich sehe ich ein Metrozeichen auf einem langen Metallpfahl und dahinter wirklich auch den Eingang zu einer Unterführung. Ich studiere die Fahrpläne, und zu meiner Begeisterung gibt es wirklich eine Linie, die direkt nach Portugalete fährt. Ich kann mein Glück kaum fassen. Der Automat kann sogar Deutsch, und ich muss auch nicht mal irgendwelche Zonen wissen, sondern kann bequem „Portu“ eintippen. Für 1.60 spuckt er mir ein Ticket aus, und auf dem Bahnsteig zeigt die Leuchttafel gerade mal 3 Minuten an. Ich bin immer noch in Trance, aber wenigstens geht es Schritt für Schritt irgendwie voran.
In der Metro kriege ich dann erst recht meinen Großstadtkoller. Ohne Wind ist es nun erst recht recht heiß, aber ich traue mich nicht, meinen Fleece auszuziehen. Zum einen hat es wenig Platz, zum anderen rieche ich wohl auch irgendwie eher nach Pilger als die größtenteils ausgehfertigen Einheimischen. Ich fühle mich total idiotisch mit meinem schiefen Wanderstock in einer Metro. Wie ein Neandertaler ins Jahr 2011 gebeamt.
Nach fast einer halben Stunde bin ich auf wackeligen Knien in Portugalete und folge schon wieder automatisch dem Menschenstrom, mal wieder ohne jeglichen Plan, wie es jetzt weitergehen soll. Da sehe ich vor mir einen Rucksack mit Isomatte zielstrebig auf die Rolltreppe zustürmen. Irgendwie sieht das ganz eindeutig nach Pilger aus; ich lege schnell den Turbo ein und sehe es als meine einzige Chance, vielleicht zu einer Pension zu finden. Bei näherer Betrachtung ist es nicht nur wirklich eine Pilgerin, sondern ich erkenne sie sogar wieder als die schwäbische Freundin von Peter. Ich bin überglücklich, in diesem überfordernden Großstadttrubel wieder ein Gefühl von Heimat bekommen zu haben. Offensichtlich ist sie heute nicht gemeinsam mit Peter gelaufen, er wäre vermutlich schon in der Herberge. Und wo die genau wäre, würde sie jetzt halt per SMS abklären. Währenddessen suche ich die Umgebung nach einer Eingebung ab, als plötzlich aus dem Metroschacht ein Haufen Rucksäcke kommt – und ich sofort Maike, Miguel und Peter erkenne. Irgendwie ist das skurril, dass wir alle in der gleichen Metro waren – und dass ich das Gefühl hatte, nun völlig allein in die Einsamkeit zu fahren, und alle anderen auch die Metro genommen haben. Ich bin fast ein bisschen beruhigt, dass nicht nur ich mich ziemlich schlecht und schuldbewusst fühle, abgekürzt zu haben. Auch die anderen sehen einen Hauch von ertappt aus. Allerdings waren sie deutlich fleißiger als ich: sie sind brav zur Jugendherberge in Bilbao, die allerdings restlos ausgebucht war. Wegen eines hochkarätigen Fußballspiels heute wäre ganz Bilbao hoteltechnisch dicht. Als nächste Anlaufstelle hätte ihnen die Touristeninformation (die sie auch gefunden haben, wie ich neidvoll feststellen muss) nicht allzu hilfreich eine Liste mit ein paar hundert Hotels in die Hand gedrückt. Auf die Frage, welches denn nah oder billig oder wohl noch am ehesten frei wäre, hätten sie mit den Schultern gezuckt, man müsste halt durchtelefonieren. Welch ein Horror anlässlich meiner Telefonangst und meines Prepaid-Handies mit moderatem Guthaben. Da hätten sie dann naheliegenderweise beschlossen, nach Portugalete rauszufahren.
Während wir eine Straße hinaufpreschen (Miguel scheint den Weg zu kennen), merke ich eine gewisse ungute Stimmung in der Gruppe. Die vier haben reserviert, und irgendwie scheint ihnen unwohl zu sein, dass ich mich da so einfach mit dranhänge und reindränge. Maike vermittelt, dass sie eigentlich zwei Doppelzimmer gebucht haben, aber sich da ja für mich vielleicht schon etwas findet. Mir ist das auch unangenehm, und ich will sicher nichts durcheinanderbringen. Ich hoffe einfach nur, dass die Pension nicht auch ausgebucht ist und es noch irgendein Zimmer für mich hat. Ob Einzel- oder Doppelzimmer ist mir heute sowas von egal.
Ein älterer Spanier steht schon vor der Tür und winkt uns herein. Während wir uns mit unseren Rucksäcken im Gang drängen und er die ersten Zimmer zeigt, frage ich seine Frau, ob es denn auch etwas für mich gäbe, ich wäre nicht angemeldet. Sie öffnet mir sofort ein Einzelzimmer, welches nun eben etwas teurer wäre, 22 Euro statt die Hälfte von 32 im Doppelzimmer. Das ist absolut fein für mich, und ich bin überglücklich, nun endlich doch noch irgendwo angekommen zu sein und ein Bett zu haben. Ich will mich schon einrichten, als die anderen am Diskutieren sind. Miguel bietet an, dass ich ja auch mit Maike in ein Doppelzimmer könnte, ihm wäre das egal. Mir eigentlich nicht, ich freue mich heute unheimlich auf meine Ruhe und will wirklich auch keine Unruhe in die geplante Konstellation bringen. Die Schwaben schauen eh schon etwas vorwurfsvoll, und Miguel scheint es auch eher aus Höflichkeit angeboten zu haben. Ich favorisiere also mein Einzelzimmerchen, bis Maike recht deutlich zu verstehen gibt, dass sie ein Doppelzimmer mit mir entspannter fände. Ich erinnere mich, wie unentspannt ich eine Nacht mit Miguel in einem großen Klosterschlafsaal fand und überlasse also Miguel das Einzelzimmer.
Nachdem in meinem Vorratsbeutel Ebbe herrscht und morgen ja zudem Sonntag ist, frage ich die Wirtin, ob es vielleicht trotz Samstag abend noch irgendwo ein kleines Lädchen hätte. Ja, ja, grad die Straße entlang. Ungeachtet meiner üblichen „sobald ich in der Herberge bin, lege ich nur noch meine Füße hoch“-Vorsätze mache ich mich also noch kurz zum Einkaufen auf, nachdem ich den anderen ohnehin erst einmal Duschvorrang lassen will. Das Lädelchen direkt am Ende der Straße entpuppt sich als Rieseneinkaufszentrum am Ende von etwa 5 langen Straßen geradeaus. Es hat einen Eroski-Hypermarché mit circa 25 Kassen und allem vom Schlauchboot hin zum Bürostuhl. Ich irre fast eine halbe Stunde zwischen den riesigen Regalen herum, bis ich meine Nussmischung, ein Brot, Wasser, ein Säftchen und Obst gefunden habe. Heute gibt es sogar noch einen Joghurt, nachdem ich gestern mit Maike darüber getrauert habe, dass es in Spanien ja leider immer nur die Viererpacks gibt.
Danach bin ich dann wirklich restlos fix und fertig und reizüberflutet. Dafür ist das Badezimmer ein absoluter Traum. Zu blitzenden weißen Kacheln hat es einen kussfrischen, zartrosa Duschvorhang, und überall hat es Ablagen. Nachdem alle anderen schon geduscht haben, lasse ich mir herrlich entspannt alle Zeit der Welt – und gönne mir den Spaß, meinen bescheidenen Waschbeutelinhalt überall auf den Tablaren auszubreiten.
Unser Zimmerchen ist einfach, aber gemütlich. Wir krümeln auf unseren Betten zu Abend, und ich bin erleichtert, dass Maike auch früh schlafen gehen will. Sie ist durch und durch nett, aber heute ist mir einfach nicht nach Plaudern. Ich bin eindeutig körperlich und mental ziemlich fertig.