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Vor lauter Bauchweh und Sorgen schlafe ich fast überhaupt nicht. Irgendwann um 4 Uhr morgens kommt mir die geniale Idee, dass es sich statt einer fulminanten Magen-Darm-Infektion auch einfach um ein monatlich wiederkehrendes Problem handeln könnte. Dieses lässt sich dann erstaunlich einfach mit einer Schmerztablette aus der Welt schaffen, sodass ich dann doch noch drei Stunden beruhigt zum Schlafen komme.

Um 7 sind die Dänen schon am Packen. Ich entscheide mich für das reichhaltige Frühstücksbuffet. Ich mache mich auf die Suche nach dem frischen Brot, welches gerade in dem Moment mit quietschenden Reifen geliefert wird, als ich durch die dunkle Rezeption tappe. Wieder einmal schränken meine Fastengrundsätze das Frühstück ziemlich ein. Heute tut es doppelt weh, denn es hat sogar eine richtig edle Espresso-Maschine. So esse ich eben Unmengen Baguette mit Marmelade und trinke zwei Schalen voll Tee. Hier in Gernika ist zum ersten Mal so richtiger Pilgertrubel, gut 10 Leute packen und frühstücken schon in aller Frühe. Und auch die diversen längeren Gespräche am Nachmittag waren irgendwie wohltuend.

Ich mache mich als erste auf den Weg. Irgendwie habe ich keine Peilung, in welche Richtung es überhaupt weitergeht, so ganz am Camino scheint die Herberge gar nicht zu liegen. Ich frage die wenigen Spanier, bis sich ein älterer Herr findet, der irgendetwas vor sich hinbrummelt und in eine bestimmte Richtung zeigt. Ich bedanke mich, aber er grummelt und läuft mit. Alle 10 m erklärt er, dass es da weiter geht, dass der Camino ihn aber also wirklich nicht interessiert. Ich sage immer wieder, dass ich dann jetzt glaube ich schon klarkomme, aber er hört gar nicht zu und grummelt nur, dass also der Camino, nein, ihn wirklich nicht interessiert. Irgendwann grummelt er zum Glück, dass er da jetzt in eine Bäckerei geht, was mich erleichtert.

Irgendwie habe ich heute Probleme mit der Ausschilderung. Ich laufe mit meinem Führer in der Hand und lese an jeder Straßenecke nach, was es auch nicht viel besser macht und irgendwie eine gewisse Unruhe hineinbringt. Gestern bin ich ja gleich am Ortseingang zur Herberge abgebogen und habe den Ortskern von Gernika überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ich habe einen Hauch von schlechtem Gewissen, an allen Sehenswürdigkeiten und historischen Orten einfach so vorbeizupilgern. Und lieber begeistert Mikrowellentee zu trinken oder Supermärkte zu bestaunen, als am Nachmittag noch ein bisschen Kultur zu genießen.

Der Weg führt mal wieder stundenlang durch halbschattige Wälder, und zum wiederholten Male denke ich darüber nach, ob ich diese Art von Camino wirklich noch brauche zum Glücklichsein. Es ist nicht schlecht, aber irgendwie ist es auch nicht direkt besonders. Wie immer laufe ich allein. Einerseits schätze ich die Ruhe und Freiheit, andererseits kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht auch deswegen ein wenig langweilig ist. Irgendwie ist niemand dabei, mit dem ich jetzt gerne stundenlang zusammen laufen würde (vielleicht von Frans abgesehen, wobei ich befürchte, dass er irgendwo mit größeren Knieproblemen hinter mir ist). Ich überlege, ob es an den Pilgern liegt oder ob sich einfach in den letzten Jahren meine Ansprüche etwas hochgeschraubt haben. Wer nicht gleich im ersten Moment mein Herz und meine Sympathien erobert, fällt fast schon durch mein Aufmerksamkeitsraster. Mir fallen die Bachblüten Beech und Water Violet ein. Beech, die auf Grund von kleinen Unzulänglichkeiten schnell ein kritisches Urteil fällt und eigentlich schon ziemlich arrogant das Gefühl hat, alles besser und richtiger zu machen. Und Water Violet, das hübsche Blümchen, welches in der Mitte eines Sees wächst, an einem langen Stiel, alle anderen Pflanzen überragend. Welches seine Ruhe und Privatsphäre schätzt und gar nicht unglücklich über eine gewisse Distanz ist – sich dann aber manchmal doch etwas einsam und allein in seiner elitären Einzelstellung fühlt. Ich muss an Maike denken, die einfach mit jedem hier auf dem Camino ein Gespräch anfängt, auf jeden Menschen zugeht und die die unterschiedlichen Bekanntschaften als Bereicherung empfindet, unabhängig davon, ob es nun ihre besten Freunde werden oder sie bahnbrechende Sympathien verspürt. Eigentlich ist das doch gerade das Schöne und Besondere am Camino. Ich bin etwas nachdenklich. Ich könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich gerne eine Water Violet wäre oder lieber im Einheitsgrün unter tausenden anderen Grünpflanzen am Ufer wachsen wollen würde. Und ich weiß erst recht nicht, was eine kritische, arrogante Beech-Water Violet- Mischung anstellen könnte, um sich in dem Einheitsgrün ganz ehrlich und von Herzen wohl zu fühlen.

Auf einer Wiese trennt sich plötzlich der Weg. Zwischen den Abzweigen liegt der typische steinerne Wegzeiger auf dem Boden. Würde er stehen, würde der Pfeil nach links zeigen. So, wie er nun liegt, zeigt der Pfeil geradeaus, also eher auf den rechten Weg. Ich bin ein wenig unentschlossen. Nachdem der Stein aber nicht umgefallen aussieht, sondern so, als würde er schon seit Monaten so liegen, beschließe ich, dass es sich bei dem Pfeil nach links um eine Fehlmarkierung gehandelt hat und man den Stein deswegen einfach um 90° gedreht hat. So laufe ich also den rechten Weg weiter. Ich bin etwa eine halbe Stunde unterwegs, als ich an eine Straße mit Wegzeigern komme. So richtige Caminozeichen hat es nicht, und der Ort, der in ein paar Kilometern kommen soll, findet sich auch nicht wirklich auf meiner Karte. Irgendwann finde ich ihn dann doch – zu meinem Schrecken absolut fern des Caminos, irgendwo zurück in Richtung Gernika. Nicht nur, dass ich den falschen Weg genommen habe, ich befinde mich auch nach ein paar Stunden gerade noch in der oberen rechten Ecke meiner Karte. Ich habe ungefähr 1 cm der heutigen 15 cm bis nach Bilbao geschafft. Ich laufe meinen Weg zurück. Ein junger Mann begegnet mir, nein, nein, der Camino wäre das nicht. Es hätte da so eine Abkürzung mit einer Markierung. Du Witzbold. Zurück an der Markierung steht der Stein plötzlich wieder aufrecht, und in der Ferne sehe ich etwa 5 Pilger wie Perlen auf einer Schnur. Ich ärgere mich ziemlich über mich selber und warum ich gerade an einem langen Tag wieder Extrarunden drehen muss.

Trotzdem bin ich heute erstaunlich schnell unterwegs. Zwischendurch überhole ich die Dänen mit den Essigkanister-Rucksäcken, die wild schnarchend in einem Feld am Weg schon wieder Siesta halten. Meine größere Pause verschiebe ich auf Lezama nach offiziellen 5 1/2 Stunden. Unter Einberechnung meines kleinen Extratrips bin ich heute gar nicht so viele Stunden wie sonst über der Zeit. Wie üblich lüfte ich meine Füße, befrage meine Beine zu ihren Wünschen und konsultiere meinen Führer. Heute gibt es seit langem mal wieder etappentechnische Entscheidungen zu treffen. Wie schon seit Wochen im Voraus sind mir die Etappen hinter Bilbao ein unlösbares Rätsel. Die Herbergen in Portugalete (nach 3 Stunden) und in Pobeña (nach 6 Stunden) machen erst später im Jahr auf. Und hinter Pobeña hat es 6 1/2 Stunden bis Castro Urdiales keine Herberge mehr. Portugalete verfügt immerhin über Pensionen. Somit kreisen mir recht wild lauter wenig verführerische Varianten im Kopf herum. Um eine 36 km Etappe von Portugalete bis Castro Urdiales scheine ich nicht herumzukommen. Eine milde Variante wäre, heute in Lezama zu stoppen und morgen nach Portugalete zu gehen, um meinen Rückstand am Tag drauf dann wieder einzuholen. Wobei mich diese 36 km irgendwie jetzt schon absolut überfordern und mich halb weinerlich machen. Und so richtig stressen mich die drei Etappen zum Schluss meiner zwei Wochen, 38, 34 und 42 km. Die 42 km mit veranschlagten 12 Stunden treiben mir definitiv die Tränen in die Augen, ich schaffe das einfach nicht und habe mal wieder nur Angst. Als eine rettende Variante hat sich in den letzten Tagen die Option etabliert, dem Rat von meinem irischen Mitpilger Patrick zu folgen, ab Bilbao die Metro nach Portugalete zu nehmen, es wäre eh nur hässliches Industriegebiet. Und wenn ich hinterher noch die Hammeretappe nach Castro Urdiales schaffe, habe ich einen Tag aufgeholt und sehr viel Druck weniger. Allerdings weiß ich nicht, ob morgen (Sonntag) überhaupt eine Metro fährt – und was mache ich, wenn vielleicht erst um 11 eine fährt. Mein Hirn rotiert wie wild lauter unerfreuliche Optionen und Varianten. Die beruhigende Stimme in mir, die mich erinnert, dass ich hier ja aus Freude auf dem Camino bin und mich überhaupt nichts und niemand zwingt, auch nur irgendein Zeil zu erreichen, wird völlig überrollt.

Die beiden Dänen überholen mich wieder, sie wollen in Lezama bleiben und suchen die Pension. Ich verkünde motiviert, noch bis Bilbao zu wollen. Sofern überhaupt noch Gedanken in meinem Kopf Platz haben, dämmert mir aber spätestens am Ortsausgang, dass es eine Schnapsidee ist. Es ist recht heiß, und meine Beine sind rein überhaupt nicht mehr frisch. Sie sagen bereits jetzt „Überforderung, Paaaaause“. Der Weg geht absolut stupide am Randstreifen einer endlosen, staubigen Straße entlang. Ich fühle mich wie in einem Western, während ich mich in brütender Hitze in praller Sonne mühsam an um diese Zeit menschenleeren Orten vorbeischleppe. Erschwerenderweise verläuft direkt neben der Straße eine Schienenstrecke. Alle paar Minuten laufe ich an einer Haltestelle vorbei, an der verführerisch „Bilbao“ ausgeschildert ist. Alle Viertelstunde tuckert ein Vorortzug an mir vorbei, und in meinem Kopf festigt sich nun der Gedanke, warum ich nicht einfach den Zug nehme. Dummerweise kämpfe ich nicht nur gegen Bequemlichkeit und fehlende Motivation, sondern auch mein Verstand favorisiert diese Möglichkeit. Laut meinem Führer kommt vor Bilbao nochmal ein hübsches Hügelchen, und das ist einfach Wahnsinn in Anbetracht meiner jetzt schon sehr nachhaltig ziehenden Waden. In Zamudio passiere ich völlig unentschlossen eine letzte Haltestelle, aber wie so oft, wenn ich keinen klaren Gedanken fassen kann, laufen meine Füße einfach mechanisch weiter. An einer Kirche betanke ich nochmal alle drei Flaschen mit Wasser, überquere die Autobahn und bin dann schon wieder in kompletter hügeliger Einsamkeit.

Ich habe einen totalen Overflow von Gedanken, während mein Körper einfach weitergeht. Ich bin ein Stück weit geschockt, wie mich eine Metro überhaupt so in Versuchung führen kann. Die morgige Metro, gut, die liegt entschuldbar in den fehlenden Herbergen begründet. Aber wie kann es so weit kommen, dass mir plötzlich gar kein logischer Grund in den Sinn kommt, der dagegen spricht, eine ungemütliche Etappe einfach abzukürzen?

Ich brauche wieder eine Pause, vertröste mich aber immer auf „dann oben auf dem Berg“, was sich natürlich wieder endlos zieht. Irgendwann habe ich dann endlich Blick auf Bilbao – einen höchst demotivierenden Blick. Die Unmengen Häuser liegen in einem diesigen Dunst, und vor allem liegen sie unheimlich tief. Ich bin schon viel zu lange gelaufen, der Berg war schon anstrengend genug, und nun auch noch ein langer Abstieg. Ich bin ziemlich überzeugt, dass ich damit alles ruiniere, aber wie so oft, das mechanische Weiterlaufen übernimmt die Steuerung. Ich mache nochmal eine lange Pause und hypnotisiere meinen Führer in der Hoffnung auf irgendwelche ungeahnten guten Neuigkeiten. Statt dessen lese ich, dass die Herbergen nicht am Weg liegen und man irgendwelche Busse nehmen muss. Also morgen nicht nur eine späte Metro nach Portugalete, sondern vermutlich erst noch ein später Bus zur Metro. Mir kommt der glänzende Gedanke, mich nicht erst mit einem Bus durch Bilbao zu wühlen, sondern gleich heute noch die Metro nach Portugalete zu nehmen. Diese Aussicht beruhigt schon ganz viele andere Szenarien und gibt mir wieder einen Hauch von Sicherheit.

Den Berg hinunter schaffe ich in bekannter grenzenloser Langsamkeit und habe dann unten in Bilbao keinerlei Plan, wo ich denn nun überhaupt hin soll und wo es eine Metro geben könnte. Ich trabe wieder einfach endlos den gelben Pfeilen nach, passiere eine Kirche und erreiche eine Art großen Platz. Heute habe ich überhaupt keinen Nerv für Fotos, dabei ist Bilbao unerwartet hübsch und fotogen. Die Straßen quellen über von Spaniern in fröhlicher Wochenendlaune und haufenweise Jugendlichen, die alle wie Tokio Hotel aussehen. Ich fühle mich ähnlich ansprechend wie ein Ratte, während ich ziellos in meinen verkrusteten Schuhen durch die Gegend stolpere. Plötzlich ist es auch recht windig, sodass ich trotz Sonne meine Fleecejacke anziehe. Vor allem hier in so einer größeren Stadt fühle ich mich erst recht unpassend und absolut unwohl.

Ich frage eine ältere Frau nach einer Metro. Sie guckt mich völlig entgeistert an und wiederholt ungläubig „Metro?Metro?!“, sodass ich schon den Eindruck bekomme, dass es dieses Wort auf Spanisch gar nicht gibt. Irgendwann strahlt sie dann doch und sagt, klar, Metro, zum Beispiel gleich hier auf dem Platz hätte es so eine XYZ, und sie macht eine Handbewegung, als würde es sich bei einer Metrostation um eine Telefonzelle handeln. Ich umrunde den Platz einmal und halte nach irgendeiner Kabine Ausschau, als wäre es ein Harry Potterscher Portschlüssel. Naheliegenderweise finde ich nichts, weiß aber auch nicht so recht, was ich machen soll, sodass ich schon wieder ziellos im Automodus einfach irgendwelche Straßen entlanglaufe, in der vagen Hoffnung, irgendwann auf etwas zu treffen, was mich schlauer macht und mir irgendeinen Ansatz bietet. Aktuell hoffe ich, irgendwann auf den Fluss zu treffen, an dem es dann irgendwo eine Touristeninformation geben soll. Den Fluss habe ich irgendwann, aber eine Touri-Office finde ich nicht. Also frage ich lieber mal wieder einen Passanten. Er meint, puh, ja, Portugalete. Wo soll er mich da jetzt hinschicken. Nach reiflicher Überlegung erklärt er mir einen Weg durch die Gassen, an dem ich irgendwann an einem Platz rauskommen würde, wo es die passende Metrostation hätte. Es überrascht mich nicht wirklich, als ich nach fast einer Stunde Irrwegen durch Bilbao wieder an dem ursprünglichen Platz lande, den ich nun wohl oder übel nochmal unter die Lupe nehmen muss. Und wirklich, plötzlich sehe ich ein Metrozeichen auf einem langen Metallpfahl und dahinter wirklich auch den Eingang zu einer Unterführung. Ich studiere die Fahrpläne, und zu meiner Begeisterung gibt es wirklich eine Linie, die direkt nach Portugalete fährt. Ich kann mein Glück kaum fassen. Der Automat kann sogar Deutsch, und ich muss auch nicht mal irgendwelche Zonen wissen, sondern kann bequem „Portu“ eintippen. Für 1.60 spuckt er mir ein Ticket aus, und auf dem Bahnsteig zeigt die Leuchttafel gerade mal 3 Minuten an. Ich bin immer noch in Trance, aber wenigstens geht es Schritt für Schritt irgendwie voran.

In der Metro kriege ich dann erst recht meinen Großstadtkoller. Ohne Wind ist es nun erst recht recht heiß, aber ich traue mich nicht, meinen Fleece auszuziehen. Zum einen hat es wenig Platz, zum anderen rieche ich wohl auch irgendwie eher nach Pilger als die größtenteils ausgehfertigen Einheimischen. Ich fühle mich total idiotisch mit meinem schiefen Wanderstock in einer Metro. Wie ein Neandertaler ins Jahr 2011 gebeamt.

Nach fast einer halben Stunde bin ich auf wackeligen Knien in Portugalete und folge schon wieder automatisch dem Menschenstrom, mal wieder ohne jeglichen Plan, wie es jetzt weitergehen soll. Da sehe ich vor mir einen Rucksack mit Isomatte zielstrebig auf die Rolltreppe zustürmen. Irgendwie sieht das ganz eindeutig nach Pilger aus; ich lege schnell den Turbo ein und sehe es als meine einzige Chance, vielleicht zu einer Pension zu finden. Bei näherer Betrachtung ist es nicht nur wirklich eine Pilgerin, sondern ich erkenne sie sogar wieder als die schwäbische Freundin von Peter. Ich bin überglücklich, in diesem überfordernden Großstadttrubel wieder ein Gefühl von Heimat bekommen zu haben. Offensichtlich ist sie heute nicht gemeinsam mit Peter gelaufen, er wäre vermutlich schon in der Herberge. Und wo die genau wäre, würde sie jetzt halt per SMS abklären. Währenddessen suche ich die Umgebung nach einer Eingebung ab, als plötzlich aus dem Metroschacht ein Haufen Rucksäcke kommt – und ich sofort Maike, Miguel und Peter erkenne. Irgendwie ist das skurril, dass wir alle in der gleichen Metro waren – und dass ich das Gefühl hatte, nun völlig allein in die Einsamkeit zu fahren, und alle anderen auch die Metro genommen haben. Ich bin fast ein bisschen beruhigt, dass nicht nur ich mich ziemlich schlecht und schuldbewusst fühle, abgekürzt zu haben. Auch die anderen sehen einen Hauch von ertappt aus. Allerdings waren sie deutlich fleißiger als ich: sie sind brav zur Jugendherberge in Bilbao, die allerdings restlos ausgebucht war. Wegen eines hochkarätigen Fußballspiels heute wäre ganz Bilbao hoteltechnisch dicht. Als nächste Anlaufstelle hätte ihnen die Touristeninformation (die sie auch gefunden haben, wie ich neidvoll feststellen muss) nicht allzu hilfreich eine Liste mit ein paar hundert Hotels in die Hand gedrückt. Auf die Frage, welches denn nah oder billig oder wohl noch am ehesten frei wäre, hätten sie mit den Schultern gezuckt, man müsste halt durchtelefonieren. Welch ein Horror anlässlich meiner Telefonangst und meines Prepaid-Handies mit moderatem Guthaben. Da hätten sie dann naheliegenderweise beschlossen, nach Portugalete rauszufahren.

Während wir eine Straße hinaufpreschen (Miguel scheint den Weg zu kennen), merke ich eine gewisse ungute Stimmung in der Gruppe. Die vier haben reserviert, und irgendwie scheint ihnen unwohl zu sein, dass ich mich da so einfach mit dranhänge und reindränge. Maike vermittelt, dass sie eigentlich zwei Doppelzimmer gebucht haben, aber sich da ja für mich vielleicht schon etwas findet. Mir ist das auch unangenehm, und ich will sicher nichts durcheinanderbringen. Ich hoffe einfach nur, dass die Pension nicht auch ausgebucht ist und es noch irgendein Zimmer für mich hat. Ob Einzel- oder Doppelzimmer ist mir heute sowas von egal.

Ein älterer Spanier steht schon vor der Tür und winkt uns herein. Während wir uns mit unseren Rucksäcken im Gang drängen und er die ersten Zimmer zeigt, frage ich seine Frau, ob es denn auch etwas für mich gäbe, ich wäre nicht angemeldet. Sie öffnet mir sofort ein Einzelzimmer, welches nun eben etwas teurer wäre, 22 Euro statt die Hälfte von 32 im Doppelzimmer. Das ist absolut fein für mich, und ich bin überglücklich, nun endlich doch noch irgendwo angekommen zu sein und ein Bett zu haben. Ich will mich schon einrichten, als die anderen am Diskutieren sind. Miguel bietet an, dass ich ja auch mit Maike in ein Doppelzimmer könnte, ihm wäre das egal. Mir eigentlich nicht, ich freue mich heute unheimlich auf meine Ruhe und will wirklich auch keine Unruhe in die geplante Konstellation bringen. Die Schwaben schauen eh schon etwas vorwurfsvoll, und Miguel scheint es auch eher aus Höflichkeit angeboten zu haben. Ich favorisiere also mein Einzelzimmerchen, bis Maike recht deutlich zu verstehen gibt, dass sie ein Doppelzimmer mit mir entspannter fände. Ich erinnere mich, wie unentspannt ich eine Nacht mit Miguel in einem großen Klosterschlafsaal fand und überlasse also Miguel das Einzelzimmer.

Nachdem in meinem Vorratsbeutel Ebbe herrscht und morgen ja zudem Sonntag ist, frage ich die Wirtin, ob es vielleicht trotz Samstag abend noch irgendwo ein kleines Lädchen hätte. Ja, ja, grad die Straße entlang. Ungeachtet meiner üblichen „sobald ich in der Herberge bin, lege ich nur noch meine Füße hoch“-Vorsätze mache ich mich also noch kurz zum Einkaufen auf, nachdem ich den anderen ohnehin erst einmal Duschvorrang lassen will. Das Lädelchen direkt am Ende der Straße entpuppt sich als Rieseneinkaufszentrum am Ende von etwa 5 langen Straßen geradeaus. Es hat einen Eroski-Hypermarché mit circa 25 Kassen und allem vom Schlauchboot hin zum Bürostuhl. Ich irre fast eine halbe Stunde zwischen den riesigen Regalen herum, bis ich meine Nussmischung, ein Brot, Wasser, ein Säftchen und Obst gefunden habe. Heute gibt es sogar noch einen Joghurt, nachdem ich gestern mit Maike darüber getrauert habe, dass es in Spanien ja leider immer nur die Viererpacks gibt.

Danach bin ich dann wirklich restlos fix und fertig und reizüberflutet. Dafür ist das Badezimmer ein absoluter Traum. Zu blitzenden weißen Kacheln hat es einen kussfrischen, zartrosa Duschvorhang, und überall hat es Ablagen. Nachdem alle anderen schon geduscht haben, lasse ich mir herrlich entspannt alle Zeit der Welt – und gönne mir den Spaß, meinen bescheidenen Waschbeutelinhalt überall auf den Tablaren auszubreiten.

Unser Zimmerchen ist einfach, aber gemütlich. Wir krümeln auf unseren Betten zu Abend, und ich bin erleichtert, dass Maike auch früh schlafen gehen will. Sie ist durch und durch nett, aber heute ist mir einfach nicht nach Plaudern. Ich bin eindeutig körperlich und mental ziemlich fertig.

Ich schlafe so tief und fest wie noch nie, vielleicht klösterlich behütet. Als Miguel um kurz nach 7 zu rumoren beginnt, kriege ich mit Blick auf die Uhr fast auch schon wieder einen kleinen Schreck. Schließlich kann ich mein Frühstück nachher ja nicht im Nachthemd in Empfang nehmen.

Ich packe schon mal soweit zusammen. Punkt halb 8 kommt der liebgewonnene Mönch hereingestrahlt, bringt Kaffee, heiße Milch und Baguette. Ein bisschen hoffe ich, dass er noch eine Fuhre bringt mit vielleicht Marmelade oder irgendetwas Nettem, aber wir bleiben klösterlich schlicht. Für mich gibt es also nur warme Milch mit Baguette. Dafür unterhält uns der Mönch noch ein bisschen, erzählt von den vielen Sprachen, die er kann, und von den Klöstern in Portugal und in Frankreich, wo er auch schon war. Und dass sie dort irgendwo immer um 4 aufgestanden sind. Hier scheint es entspannter zu sein, er ist erst seit 2 Stunden wach. Er muss dann aber auch schon wieder los, Morgengebet und ganz viel anderes. Zum Abschied gibt es nochmal eine Umarmung und ein Küsschen. Ein sehr beeindruckender Mönch und Aufenthalt.

Ich fühle mich ausgesprochen ausgeruht, geerdet und mit neuen Energie betankt, als ich mich in einem dazu passend wunderschönen Sonnenaufgang wieder auf den Weg mache. Die übliche Ruhe auf dem Weg wird noch dadurch intensiviert, dass ich alle anderen Pilger zwei Stunden hinter mir weiß.

Wieder plätschert der Weg durch idyllisches Hinterland, an kleinen Dörfchen mit hübschen Häusern und noch sehr viel hübscheren Gärten vorbei. Ich komme mir fast vor wie ein Tourist, weil ich alle 10 m begeistert ein anderes Blümchen fotografiere.

Ich freue mich an jeder Weide, jedem einzelnen Esel, jedem Kälbchen und jeder Schafherde. Vielleicht macht es das Fehlen von anderen Pilgern, dass ich ab und zu das Gefühl habe, mit jemandem sprechen zu müssen. Mit Hunden spreche ich mittlerweile sehr routiniert, um mir auch selber ein bisschen die Angst vor ihrem couragierten Kläffen zu nehmen. Mit Pferden klappt es auch schon recht gut, sie schauen mich zumindest interessiert an und spielen mit den Ohren. Meine Idee, sie für Gesang zu begeistern, war allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Esel habe ich besonders gern. Meinen durchschlagendsten Erfolg habe ich allerdings heute an einer Schafweide. Als ich mich ihr nähere, schaut die Herde nicht nur aufmerksam auf, sondern beginnt nach kurzem Überlegen mit wehendem Fell, auf mich zuzurennen. Mir tut es immer leid, im Gegenzug kein Leckerli oder wenigstens ein Streicheln anbieten zu können.

Die heutige 17 km – Minietappe ist erwartungsgemäß kein Problem, und mangels Druck bin ich auch deutlich sonniger eingestellt als gestern. Heute klappt alles hervorragend. Irgendetwas veranlasst mich zum Beispiel, in Marmiz kurz vor Gernika in meinen Führer zu schauen (was ich sonst normalerweise nicht mache) – und genau im richtigen Moment lese ich, dass man dem verblichenen Pfeil nach rechts nicht folgen soll, sondern der Weg vorher abgeht. Heute umspannen mich wohl wieder feine rosa Zuckerwattefäden.

In Gernika fällt mein Blick auf eine Leuchtanzeige, die 13.45 anzeigt. Auch das ist wieder perfektes Timing, nachdem die Jugendherberge laut Führer um 14.00 erstmal wieder siestatechnisch schließt. Glücklicherweise sticht mir auch gleich ein gelber Albergue-Pfeil ins Auge, und 100 m später stehe ich vor meinem heutigen Quartier. Vor einer verschlossenen Glastüre, die dann aber doch noch per Summer geöffnet wird. Hinter einer Rezeption teilt mir eine Frau eher unwillig mit, dass das jetzt etwas ungünstig wäre, sie würden nämlich um 14.00 schließen (und sich wahrscheinlich 10 Minuten vorher schon mal geistig drauf einstimmen). Wenn ich unbedingt wollte, könnte ich meinen Rucksack ja schon mal dalassen. Ich sehe wohl komplett entgeistert aus bei der Vorstellung, mich jetzt ungeduscht 2 Stunden vor der Herberge rumzudrücken, sodass sie schicksalsergeben meint, ich solle ein paar Minuten Geduld haben. Habe ich natürlich. Während sie Ordnung macht und an ihrem Computer rumhackt, inspiziere ich den Eingangsbereich. Alles sieht einfach ganz fürchterlich nach Jugendherberge aus. Auf einem Plakat wird groß Frühstück von 9-10 angekündigt, sehr pilgerfreundlich. Und auf den vielen Stühlen sehe ich vor meinem inneren Auge schon in wenigen Stunden kreischende Teeniegruppen sitzen.

Irgendwann winkt mich die Dame heran, anscheinend darf ich nun doch gleich wohnen bleiben. Mit über 20 Euro ist es die bisher weitaus teuerste Unterkunft, und in Anbetracht der fortgerückten Stunde soll ich bitte der Einfachheit halber mit Karte zahlen. Nachdem ich Pilger ohne Kreditkartenbenützung bin, bekommt sie eben fast ähnlich einfach mein gesamtes Kleingeld passend zusammengestückelt. Zum Thema Frühstück winke ich ab, dass ich da schon losmüsste. Sie ist etwas irritiert, nein, nein, das von 9-10 wäre nicht für Pilger. Sie würden das schon am Vortag richten, und wir müssten dann nur um 7.00 das frische Baguette aus einem Beutel vor der Tür reinholen. Ich bin hocherfreut und bedanke mich überschwänglich für alles.

Nicht sehr standesgemäß nehme ich für den zweiten Stock den Aufzug. Zur Linken fällt mir gleich ein Schild mit „Botas“ auf. Während ich meine reichlich verdreckten Schuhe ausziehe, kommt mir die Idee, ob der zweite Stock vielleicht für Pilger reserviert ist und ich gar nicht mit einer spanischen Jugendgruppe mein Zimmerchen teilen muss. In „meinem“ Zimmer, dass ich sehr offiziell mit „meinem“ Schlüssel aufschließe, sind zwei Betten schon belegt, eindeutig von Pilgern (von Pilgern mit sehr viel Gepäck). Ich bin begeistert, wider Erwarten so eine tolle Unterkunft gefunden zu haben. Der Raum ist total gemütlich, hat 3 Stockbetten aus Holz und dazu blütenweiße, duftende Bettwäsche. Das gab es ja noch nie. Der Boden ist auch aus Holz, die Vorhänge sind dunkelblau, die Wände farbig gestrichen.

Ich entscheide mich trotz Höhenangst ausnahmsweise für ein oberes Stockbett. Bei dem verbleibenden langen Nachmittag sitzt es sich da einfach freier, und die Herausfallsicherung wirkt auch sehr viel vielversprechender als in Deba.

Ich dusche in sympathischen Waschräumen und finde eine riesige Terrasse zum Wäsche aufhängen. Zum strahlenden Sonnenschein weht ein kräftiger Wind und trocknet meine Sachen im Nu. Im Frühstücksraum hat es Krüge mit Wasser, Geschirr sowie ein reichhaltiges Sortiment an Tee und Kaffee, sodass ich mir höchst zufrieden heißes Wasser für meinen Mandarin-Grüntee mache und vor lauter Begeisterung gleich noch einen Pfefferminztee hinterhertrinke.

Nachdem meine beiden Zimmergenossen in der Zwischenzeit eingetroffen sind und in tiefster Siesta weilen, gebe auch ich mich möglichst lautlos und mache ein Schläfchen. Nicht allzu lang, denn die männliche Komponente hat recht aufschreckende Schnarchanfälle, und nach einer halben Stunde unterhalten sich die beiden ohnehin lautstark auf Dänisch. Sie haben sich heute einen Ruhetag gegönnt. Der Schnarcher ist caminoerprobt und bereits letztes Jahr durch Frankreich und Spanien gelaufen. Seine Frau schnuppert nun ein bisschen mit ihm Caminoluft, fliegt aber bereits in 2 Tagen von Bilbao wieder nach Hause. Man merkt ihnen an, dass sie auch viel in Skandinavien wandern gehen. Ihre Ausrüstung orientiert sich weniger an foren-erprobtem Leichtgewicht, sondern beide tragen um die 14 kg in riesigen Rucksäcken. Und ausgesprochen lustig verpackt in kleinen Plastikkistchen, welche abgesägte Essigkanister wären. Diese stapeln sich sehr ordentlich zwei unten, zwei oben. Ich bin beeindruckt, und der Mann ist schon fast an der Tür, um mit mir zur nächsten Tankstelle zu laufen und ein paar Ölkanister abzusägen. Ich lehne dankend ab. So viel Krempel habe ich ja zum Glück nicht. Auf die linke Seite meines ebenfalls sehr großen Hauptfachs kommt mein Schlafsack, auf die rechte Seite in regelmäßiger Reihenfolge Regenmontur, zweite-Tageshälfte-Fleece, Nachtshirt und der Einkaufsbeutel für den Duschgang mit Handtuch und meiner Nachmittagsgarnitur. Formvollendet von meinem Essensbeutel quer obendrüber. Und ich bin jeden Morgen erleichtert, wie leicht es mir so fällt, Ordnung zu halten. Getreu Feng Shui bedingt äußere Ordnung wohl innere Ordnung.

Eine weitere Pilgerin kommt in unser Zimmer. Vermutlich veranlasst mich ihr bekannter gelber Reiseführer zur Frage, ob sie deutsch wäre. Ist sie, sie kommt aus Norddeutschland. Im Gegensatz zu mir, die hier schon seit Stunden luxuriös herumgammelt, ist Maike ziemlich kaputt. Sie erzählt, dass sie zwei Tage in Zenarruza verbracht hätte, um von einer Magen-Darm-Grippe und einer Erkältung gleichzeitig zu genesen. Sie ist immer noch reichlich verschnupft, ansonsten aber auf dem Weg der Besserung. Ich bin heilfroh, bisher weitgehend von Krankheiten verschont geblieben zu sein. Manche Etappen schlauchen mich ja schon bei bester Gesundheit. An Fieber oder Durchfall gar nicht zu denken.

Ich setze mich ein bisschen auf die sonnige Terrasse und flechte mein erstes Armbändel auf diesem Camino. Ich möchte es für Frans machen, den ich aber seit Deba nicht mehr gesehen habe. Maike hat ihn auch schon getroffen; auch sie ist sehr beeindruckt von ihm und seiner bedächtigen Gangart. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, hatte er gerade mobilfunklich heißlaufende Drähte mit seiner Frau. Vermutlich ist sie nicht ganz so überzeugt wie er, dass sie zu Hause alle Probleme allein bewältigen kann. Ich wünsche ihm vom Herzen, dass sich diese Probleme lösen und seine Knie nicht zu einem ernsthaften Problem werden.

Ich sitze ein Weilchen mit Maike. Obwohl ich in Spanien nicht so gerne deutsch spreche, ist es sehr angenehm. Sie ist eine lustige, etwas unkonventionelle Person, vor allem sehr offen und kommunikativ. So kennt sie natürlich auch schon jeden Pilger näher, der mir jemals auf dem Camino begegnet ist. Sie erzählt sehr erheiternd von ihrem Krankenaufenthalt in der privaten Herberge von Zenarruza, von lustigen Fieberhalluzinationen und liebevoller Umsorgung. Wie die meisten geht sie den Camino recht frei von spiritueller Erwartung. Daran habe ich mich mittlerweile allerdings schon gewöhnt. Etwas Ruhe in schöner Landschaft zu haben, steht für den Großteil im Vordergrund. Auch die dänischen Geschwister planen, von Bilbao nach Gijón zu fahren, um dann lieber noch etwas Zeit zu haben, um Freunde zu besuchen. Immerhin, Maike will auch bis Santiago.

Hier in Gernika kommt heute gefühlt alles zusammen, was so auf dem Camino unterwegs ist. Neben Miguel ist auch das schwäbische Pärchen aus Deba angekommen. Peter prügelt sehr eindrucksvoll das Wasser aus seiner Wäsche (dabei trocknet bei diesem Wind und der Sonne vermutlich eh alles in wenigen Stunden), um mich dann im Anschluss ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Ich hätte ja schon ein sehr gemächliches Tempo, wenn er das so sagen dürfte. Er empfiehlt mir Stöcke, dann würde das bestimmt auch bei mir besser. Ich sage da lieber nicht viel dazu. Immerhin läuft er (auf Jahre verteilt) bereits ab von der Haustür, was mich doch beeindruckt und mir einen gewissen Respekt vor seinen Ratschlägen verschafft.

Zwecks Abendessen finde ich einen kleinen Laden, in dem ich sicher wieder eine halbe Stunde unschlüssig vor den Regalen stehe. Intuitiv habe ich wie so oft das Gefühl, dass mich andere mitleidig anschauen, weil ich mir jede Kleinigkeit so lange überlegen muss und ewig sehnsüchtig vor einem Regal stehe, ohne etwas zu kaufen. Manchmal muss ich mich fast selbst erinnern, dass ich in meinem schlabbrigen Sitzkissen-Kopfkissen-XXL-Fleecepulli und mit meinem halbleeren Einkaufskorb hoffnungsloser aussehe, als ich eigentlich bin. Und einfach Gewicht kalkulieren muss.

Dank Nähe zur Herberge gibt es heute wieder ein Luxusmahl mit gebratenen Paprika in Öl, frischen Tomaten und Kiwis. Vor lauter Weißbrot und Chorizo erscheint mir der Gedanke an egal welches frische Gemüse manchmal schon wie eine Oase für einen Verdurstenden. Und heute ist wirklich Luxus, es gibt einen manierlichen Speisesaal, Essig und Öl und richtiges Geschirr – welches man nachher einfach zum späteren Spülen in einer Plastikwanne versenken darf.

Auch die dänischen Geschwister treffe ich im Zimmer nebenan. Ich bin fast schon überrascht, als die Schwester mich freiwillig von sich aus anspricht und meint, sie hätten mich ja gestern schon vermisst. Allerdings schwingt weniger Sorge mit als ein leiser Vorwurf, schließlich hätte ich doch gesagt, es gäbe keine Herberge zwischendrin, und dann wäre ich nicht aufgekreuzt. Ich stehe etwas auf dem Schlauch, nachdem sie ja in Markina übernachtet haben und ich schon immer nach Zenarruza wollte. Es klärt sich, dass sie auch nicht in Markina übernachtet haben, sondern dort die Telefonnummer der private Herberge von Zenarruza angerufen haben, die an jedem zweiten Laternenpfahl hing. Sie wurden dann in Markina mit dem Auto abgeholt, und ich habe sie nicht fertig geduscht in Flipflops gesehen, sondern schon mal in Flipflops, auf den Transport wartend. Wie sich herausstellt, war die private Herberge dank Abholservice gut gefüllt – während Miguel und ich in unserem Kloster das Gefühl hatten, in Zenarruza allein zu sein.

Mit zum ersten Mal schon am Abend „rucksacktrockener“ Wäsche und der Aussicht auf ein wunderbar duftiges Bettlaken und Kissen gehe ich wieder recht früh schlafen. Der Tag war unglaublich entspannend und erholsam, wenn auch auf eine andere Art als der gestrige Klosteraufenthalt. Ich bin überaus dankbar, so eine angenehme Unterkunft gefunden zu haben – von lärmenden Teenies keine Spur, heute hat es hier nur Pilger und die Atmosphäre einer einfach recht edlen Pilgerherberge. Und die heutige Kuscheletappe von 17 km lässt die Überforderung von vor gerade einmal zwei Tagen vergessen. Allerdings tut mir seit dem Essen der Bauch ein bisschen weh. Plötzlich habe ich die fixe Idee, mich bei Maike mit ihrem rätselhaften Virus angesteckt zu haben. Eine Inkubationszeit von wenigen Stunden erscheint mir zwar etwas unwahrscheinlich, trotzdem höre ich sofort wieder zu achtsam auf beunruhigende Gluckergeräusche. Mein Bauch tut auch jenseits von reichhaltigem Vorstellungsvermögen wirklich weh. Mit der Erinnerung, morgen dann doch wieder eine lange Etappe vor mir zu haben und diese vielleicht mit Durchfall und Fieber bewältigen zu müssen, schlafe ich naheliegenderweise dann doch nicht allzu beruhigt ein.

Nachdem wir heute alle gezwungenermaßen einen langen Tag vor uns haben, ist früher Aufbruch angesagt. Die Dänen rascheln um 7, ich schließe mich dem Rascheln an. Nur Frans, der eigentlich wegen seines gemächlichen Tempos auch sehr früh loswollte, schläft noch tief und fest in seiner 3. Etage.

Ich schleppe mein Hab und Gut geräuscharm vor die Tür und packe erst auf dem Gehweg ordentlich. Heute ist es richtiggehend kühl, was Hoffnung für die Etappe macht. Ich trinke am Brunnen in der Allee nochmal einen Liter Flüssigkeitsstartkapital und habe 2 1/2 Liter im Rucksack. Hoffentlich reicht das für den langen Tag. Grundsätzlich wohler wäre mir auch mit etwas Kalorienkapital, nachdem ich ja gestern mein Baguette schon ganz aufgegessen habe. Ich spiele mit dem Gedanken, doch noch nach einer Bäckerei Ausschau zu halten, als mir die Dänen über den Weg laufen. Die forsche Blondine instruiert mich gleich, dass es eine Bäckerei gleich um die Ecke hätte, die zu dieser frühen Stunde schon geöffnet hätte. Super. Und was für eine Bäckerei. Schokoladenfrei hat es immer noch eine sehr nahrhaft aussehende Pudding-Rosinenschnecke und ein zartes Apfelstückchen. Letzteres esse ich gleich noch im Park, das Schneckchen bleibt für später.

Während ich noch Richtung Bahnhof zurücktrabe und mich auf einen dritten Aufzug gefasst mache, den ich gestern mit einem gelben Pfeil und einer Schlange davor gesehen habe, stelle ich fest, dass der Camino nebenbei vorbeigeht und es auch nicht wirklich ein Aufzug ist, sondern schlicht und ergreifend ein WC, welches mir nach meiner Trinkkur aber gerade recht kommt. Allerdings steht irgendetwas mir Unverständliches an der Tür. Irgendetwas von 5 Minuten verstehe ich. Drinnen ist alles von der Decke bis zum Boden patschnass, und während ich ein trockenes Plätzchen für meinen Rucksack suche, kommt mir der erschreckende Gedanke, das die gute Örtlichkeit sich vielleicht nach 5 Minute automatisch rundum selbst zu reinigen beginnt. Recht hektisch positioniere ich meinen Rucksack dann doch in einer feuchten Ecke, nur um gleich darauf einen dicken, schönen Metallhaken an der Wand zu sehen.

Ich unterbiete glücklicherweise die 5 Minuten, mache mir allerdings langsam Gedanken um meine hygienische Zusammensetzung. Am Schuh klebt tote Ratte, am Fleecepulli wahlweise fremde Kopfschuppen und Waldbodendreck, und mein Rücken wird gerade sanft durchfeuchtet von WC-Bodenwasser.

Es geht recht schnell auf einem einsamen Waldweg in die Höhe. Diese Wege sind so mit meine Lieblingsabschnitte. Kein nerviger Trubel in einer Stadt, kein eintöniges Geradeaus- oder Bergabtraben, wobei ich eh nur dran denke, was mir jetzt schon wieder weh tun könnte.

Plötzlich stehe ich an einer Wegkreuzung, bei der es eigentlich zum ersten Mal keine eindeutigen, idiotensicheren Pfeile hat. Ein leicht verblichener Pfeil zeigt nach rechts, aber dort ist am nächsten Baum ein vermutlich weiterer Pfeil extra dick schwarz übermalt. Also laufe ich geradeaus, wo aber auch kein wirklich überzeugend gelber Pfeil kommt. Nach ein paar Minuten kehre ich um, laufe doch den rechten Weg, aber neben ganz frischen Pfeilen überwiegt doch vor allem das extra Übermalte. Nach ein paar Minuten laufe ich dann doch auch da wieder zurück, nachdem es zwar haufenweise Fußspuren hat, aber leider auch sehr viel in Gegenrichtung. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, was das zu bedeuten hat und tendiere schon fast dazu, auf einen weiteren Pilger zu warten, der vielleicht einen schlaueren Führer hat. Die Dänen sind allerdings vermutlich schon durch, und so viel anderes (zumindest bereits waches) bleibt ja nicht mehr. Ich vertrödele bestimmt eine halbe Stunde, bis ich beschließe, statt gelben Pfeilen einfach den dicken, schwarzen Übermalungen zu folgen. Wo früher mal ein Camino hingeführt hat, wird ja wohl auch jetzt irgendein Weg hinführen – ob nun der Optimale oder nicht.

Je weiter ich laufe, verstärkt sich mein Eindruck, dass die schwarzen Übermalungen nicht freundliche Jakobswegneuausschilderung sind, sondern einfach ein Störversuch. Spätestens, als es an einigen Stellen schwarze Pfeile in beide Richtungen gibt, bin ich mir dessen sicher. Und ganz wohl fühle ich mich dabei nicht. Zu viel Fantasie am frühen Morgen.

Spätestens bei der Ermita del Calvario sind die Wegmarkierungen dann wieder wie gewohnt leuchtend dunkelgelb. Dafür mache ich bei meinem ersten Päuschen am heutigen Tag mal wieder eine Entdeckung, die mich völlig aus dem Konzept bringt. Mein Bein sieht mal wieder dicker aus als normal, und sofort spielen meine Gedanken verrückt. Dass die gestrige Etappe zu viel war, ist naheliegend. Wie ich nun mit einem eventuell kaputten Bein eine Riesenetappe schaffen soll, ist die andere Frage. Oder besser, noch ist wohl nicht viel kaputt, aber was wird daraus, wenn ich damit nun noch 9 Stunden weiterlaufe? Ich bin hin- und hergerissen, wieder kleinlaut nach Deba zurückzulaufen. Ehrlichgesagt kann ich aber auch nicht wirklich einschätzen, wie normal oder unnormal das jetzt überhaupt ist. Ich bin mittlerweile erfahrungsgemäß absolut paranoid, was eventuelle Schwellungszustände meines Beins angeht. Ich beschließe, mich nach der bewährten Methode des Hospitaleros von Ruitelán zu richten und weiterzulaufen, allerdings einfach mit Bedacht. So schleiche ich dann auch die Straße entlang, noch langsamer als sonst, und am liebsten auch bereits in der Ebene jeden Schritt mit meinem kläglichen Stöckchen entlastend.

Es geht recht ewig mit diversen Varianten durch den Wald. Dank des Schattens und der Frühe des Tages ist es weitaus weniger mühsam als gestern, dafür hält mich die ständige Sorge um mein Bein bei Laune. Vor allem ist mir höchst bewusst, dass ich ganz und gar selber dran schuld bin, ist mir doch wirklich ausführlich von der gestrigen Etappe abgeraten worden. Ich traue mich nicht einmal, zu beten, dass es wieder gut wird, irgendwie wäre das ja zu viel verlangt. Und leider kann ich auch nicht beten „mach, dass nur diese eine Etappe noch gut wird“, denn nach einer morgen etwas ruhigeren Etappe habe ich danach eine Ü30 nach Bilbao im Kopf mit einer weiteren folgenden Monsteretappe von über 40 km. Und die drei Etappen vor Llanes brillieren mit 10, 9.45 und 12 Stunden reiner Gehzeit, wobei ich diese Zeiten bei meinem Tempo um gut 2-3 Stunden überbiete – abgesehen davon, dass mir solche Etappen für mein Bein Wahnsinn erscheinen und ich eine 12-Stunden-Etappe auch beim besten Willen logisch nicht in einen Tag hineinbekomme. Vor meinem inneren Auge jagt eine Riesenetappe die nächste, und im Moment fühle ich mich bei dieser Vorstellung einfach restlos überfordert, gestreßt und verzweifelt. Burnout-Entstehung auf dem Jakobsweg. Während ich Stunde um Stunde mit ziependem Bein durch sonnigen Wald trotte und den nächsten Tagen mit unlösbarem Schrecken entgegensehe, stelle ich mir die Frage, warum ich mir das eigentlich antue. Nach Llanes zwingt mich eigentlich nichts, sehr wahrscheinlich würde sich auch vorher ein Bus zurück finden lassen. Zwar bin ich sonst immer gut mit den Etappenlängen meines Reiseführers gefahren, aber statt wie sonst 5- 7 Stunden sind die Etappen hier einfach viel länger. Selbst die Aussicht, stressfrei nur bis z.B. Santander zu gehen, reizt mich ehrlichgesagt auch nicht viel mehr. Das Meer nach Pasai Donibane war atemberaubend schön, aber seither tappe ich stundenlang durch Wälder und freue mich an Kühen und Schafen, aber das könnte ich gerade so gut zu Hause machen. Und müsste mir nicht noch ein Schlafen in solchen Kleinoden wie der Herberge von Deba antun, bei der ich null Privatsphäre habe und um mich herum lauter so sympathische Gestalten wie das recht spezielle Geschwisterpärchen. Ich denke an meine früheren Caminos, bei denen mich die Wunder und die Magie fasziniert haben. Hier ist von Wundern oder Magie keine Spur, geschweige denn von Gott. Keine ständigen Regenbogen und wunderbaren Pilger mit Strahleaugen und magischen Freundschaften oder Engelmissionen. Offiziell nach oben beschweren will ich mich aber dann doch auch nicht. Zu Beginn meiner Caminos hatte ich keinen Glauben, da hat es wohl etwas Feuerwerk gebraucht, um mich von der Existenz einer höheren Macht zu überzeugen. Von dieser bin ich nun ja überzeugt, da ist es eigentlich verständlich, dass die Regenbogen und die Sonderklasse-Level-2-Pilger zu anderen Pilgern geschickt werden, die es nötiger haben. Vermutlich habe ich auch Freundschaften und Bestätigung schon einmal mehr gebraucht als im Moment. Und nicht zuletzt bin ich selber schuld, ständig auf den Camino zurückzukehren, obwohl ich eigentlich schon lange gelernt habe, dass es kein Spanien braucht, um Gott zu spüren, Freundschaften zu erfahren und ein guter Mensch zu sein. Und dass mich die Etappen stressen, ist auch ein durchaus hausgemachtes Problem. Ich bin ein Stück weit versöhnt und grolle wenn, dann mit mir selbst.

Meine nächste Mittagspause mache ich ausnahmsweise recht zivilisiert an einem überdachten ehemaligen Waschplatzhäuschen, neben einer merkwürdigen Schafherde, die eng aneinandergepresst einfach grast. Während ich meine Schuhe und Socken in der Sonne lüfte und selber entspannt im Schatten sitze und meine Vorräte ausbreite, krabbelt eine kleine Spinne tapfer meinen Strumpf hoch. Ich lasse sie auf ein Papierstückchen krabbeln und inspiziere sie näher. Es handelt sich um eine Zecke, sodass ich das Papierchen in hohem Bogen möglichst weit zur Seite werfe. Im nächsten Moment scheint mir das keine so gute Idee gewesen zu sein. Das hartnäckige Tier krabbelt jetzt bestimmt in Höchstgeschwindigkeit zurück und in meinen Rucksack oder in meine Schuhe oder wohin sonst auch immer. Eine Zecke fehlt mir gerade noch, also schüttele ich alles kraftvoll und ergreife hektisch die Flucht.

Dann geht der Weg stundenlang auf kleine Wegen durch wechselnde Landschaft, aber komischerweise fühlt es sich weder nervig noch anstrengend an. Vielleicht hilft das unterschwellige Wissen, dass es heute einfach eine sehr lange Etappe ist, sodass ich gar nicht auf die Idee komme, mich mit einem quälend hoffnungsvollen Gedanken an „bin ich jetzt bald da?“ zu beschäftigen. Zum Hohn meiner Wasservorräte hat es alle halbe Stunde irgendwo ein Häuschen mit einem Wasserhahn. Mir dämmert erst jetzt, dass mein Führer im Gegensatz zum Camino Frances einfach generell keine Brunnen einzeichnet, und ein fehlendes Brunnenzeichen rein überhaupt nicht auf eine nachschublose Etappe hindeuten muss.

Teilweise versöhnt mich auch die wirklich liebliche Landschaft. Ich denke über den Einsamkeitsfaktor auf dem Camino del Norte nach. Heute bin ich außer an der Bäckerei noch keinem Pilger begegnet. Im Vorfeld hatte ich etwas Sorge, was die angekündigte „Einsamkeit“ angeht. In meinen kühnsten Horrorvorstellungen habe ich mich als einzigen Pilger in 2 Wochen gesehen, der sich in jedem Ort mühsam nach einer improvisierten Unterkunft durchfragen muss, wenn er nicht gerade wieder orientierungs- und markierungslos mit dem Buschmesser irgendwelche zugewachsenen Pfade freischlägt. Und das natürlich noch in strömendem Regen. Dafür habe ich es nun wirklich sehr gut. Vermutlich auf Grund des heiligen Jahres prangen überall mehr dunkelgelbe Pfeile als auf dem Hauptweg, es hat überall eine Pilgerherberge, die mit 4-7 Pilgern auch nicht wirklich einsamer ist als auf dem Hauptweg zur gleichen Zeit. Und die „Einsamkeit“ tagsüber ist keinesfalls von einer einsamen, alleinen, verlassenen Natur, sondern eher ein Luxus an Ruhe und Stille und Naturerlebnis.

So bin ich richtiggegend überrascht, als ich gegen 16.00 schon in Markina ankomme, ohne mich eigentlich so wirklich am Ende zu fühlen. Vor der riesigen Kirche schnappe ich mir einen (zeckensicheren) Riesenquader im Schatten, um auf Rosa-Rat hin nun eine sehr lange Pause zu machen, mit der Etappe gedanklich abzuschließen, bevor ich mich dann nochmal auf die letzten beiden Stunden mache, die nochmal nett den Berg hochgehen sollen. Dafür, dass diese Etappe die schlimmste des ganzen Caminos sein soll, bin ich zumindest nach offizieller Stunde 7.15 noch ganz guter Dinge. Ich verspeise die letzten Reste meiner umfangreichen Vorratstasche und bin überrascht, dass egal, wie satt ich bin, hinterher noch unbegrenzter Appetit auf meine Lieblingsnussmischung besteht, eine Komposition aus Haselnüssen, Mandeln, Pinienkernen, Rosinen und Papaya.

Nachdem die Sonne mittlerweile mein schattiges Steinchen zu bescheinen beginnt, ist es vermutlich Zeit zum Aufbruch. Markina entpuppt sich als größere Stadt voller belebter Kneipen und Cafés. Über den Marktplatz sehe ich von Weitem mit ihrem charakteristisch entschlossenen Sturmschritt die blonde Dänin in Flipflops eilen. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, ihnen gestern Angst eingejagt zu haben, dass es in Markina keine Unterkunft gäbe. So groß, wie der Ort ist, hat es zwar vielleicht noch keine geöffnete Pilgerherberge, aber dafür sicher haufenweise Pensionen. In einer davon scheinen die Dänen ja augenscheinlich untergekommen zu sein.

Für einen klitzekleinen Moment kommt mir die Idee, dann doch auch einfach hier übernachten zu können, dann würde ja auch die Riesenetappe wegfallen. Irgendwie habe ich mich jetzt mental aber schon so richtig auf nochmal 2 Stunden eingestellt, außerdem möchte ich heute ganz dringend in dieser Klosterherberge übernachten. Die letzten Stunden habe ich so eine innere Wandlung meiner Stimmung erfahren und konnte die Sorgen um mein Bein so weit zur Seite schieben, dass ich im Moment seit langem mal wieder einfach nur dankbar bin.

Kurz vor dem Ortsausgang findet sich noch ein richtiger Supermarkt, wo ich nochmal Vorräte auffülle. Meinen Stock, den ich immer sittsam am Eingang stehen lasse, vergesse ich dabei auch gleich, nachdem ich die ersten Minuten begeistert einen schönen, grünen Apfel kaue und mir meine rechte Hand erst danach seltsam untätig vorkommt. Ich bin unentschlossen, gehe aber doch nochmal zurück. Selbst wenn ich ihn nicht mehr wirklich brauche, so hat er sich heute ja schließlich auch einen ordentlichen Abschluss verdient.

Der weitere Weg ist wunderschön. Meist geht es durch Wiesen (vor der Zeckenentdeckung wäre ich vermutlich noch euphorischer), dann umspielt den Camino ein kleiner, plätschernder Bach. Vor einem Anwesen weist mich ein älterer Spanier drauf hin, dass der Weg jetzt ziemlich nass wäre. Ich kontere fröhlich „soy peregrina!“ und springe in den Matsch.

Irgendwo an einer kleinen Siedlung weist ein Pfeil plötzlich zurück in meine Richtung. Ich bin etwas unschlüssig und frage einen Bauarbeiter, der extra seine Arbeit unterbricht und mich anstrahlt, dass er mir da nicht helfen kann, er wäre nicht von da. Strahl. Strahl. Strahl. Irgendwann ruft er dann noch einen anderen Kollegen, der ein bisschen lateinamerikanisch aussieht und in höchsten Tönen quakt „Camino Santiago? SANTIAGO?! Aqui?!?!“. Vielleicht kommt er aus Santiago de Chile und hält mich naheliegenderweise für etwas zu intensiv besonnt. Der erste Arbeiter meint dann erstaunlich sortiert, dass wir ja mal die da hinten fragen könnten, die wären von hier. Er läuft mir voraus um ein Haus herum, wo er unter großer Kraftanstrengung eine Tür öffnet. Ich bin sehr gespannt, was sich dahinter verbirgt. Es scheint er Hintereingang zu einer Bar zu sein, in der mein guter Mann mit den Worten „schaut euch die Chica an“ sofort die gesamte Gesellschaft in den Türrahmen beordert. Die Herren 70 aufwärts können sich gar nicht einigen, wer mir nun den Weg weisen darf. Aha, es geht ein bisschen in Gegenrichtung die Hauptstraße zurück und dann im Bogen auf der anderen Seite weiter. Ich bin wieder einmal positiv überrascht von der liebevollen Unterstützung. Die Herren bleiben in der Tür stehen, bis ich auf der anderen Seite außer Sichtweite bin.

Die Pfeile leiten mich mitten in eine Kuhweide, die ich etwas ängstlich passiere. Ein größeres Problem als die Kühe an sich stellen ihre Wege dar. Ich wühle mich durch ziemlich spektakuläres Gelände und bin heilfroh, dass es zumindest trocken ist.

Ich konsultiere kurz meinen Führer und lese, dass es um 19.15 eine Messe hat, sodass ich meine Schritte etwas beschleunige. Überglücklich kommt gegen halb 7 ein schnuckeliges Dörfchen in Sichtweite, welches sich zu meinem Schrecken aber nicht als Zenarruza entpuppt. Am Ende des Dörfchens leitet dafür eine Holztafel mit „1,1 km, 30 Minuten“ den Berg hoch. Das wird ja eine Punktlandung.

Im Geiste rechne ich minutiös durch, ob ich das inklusive Duschen hinbekomme, zumal laut Führer die Duschen 100 m entfernt liegen sollen. Als dann links ein Wegweiser zur Albergue abgeht, bin ich dann doch ziemlich geschafft. Höher am Berg liegt das eigentliche Kloster, die Herberge scheint in dem Gebäudekomplex etwas tiefer zu sein. Ich tappe ewig drum herum, finde aber vor lauter Bar nicht so richtig die Klosterrezeption, an der ich mich melden soll. Ein Kellner winkt mich hinein, das wäre schon richtig. Ich frage nochmal nach, ob das die Klosterherberge wäre. Ja, ja. Ob es denn wirklich keine andere gäbe. Etwas missmutig meint er, es gäbe diese Klosterherberge und oben im Kloster nochmal eine. Ich verabschiede mich glücklich. Herrje, jetzt wäre ich um ein Haar noch in der falschen Herberge abgestiegen.

Das Kloster liegt wunderschön und verlassen. Auch hier umrunde ich alles ziellos, um an einem Souvenirkiosk zumindest eine Klingel zu finden, die ich dann mal betätige. Ich bekomme einen Riesenschreck, weil es plötzlich dauerklingelt und ich vielleicht die Klingel irgendwie arretiert habe. Nach einigen bangen Sekunden krächzt es aus der Sprechanlage, und ich krächze zurück, dass ich eine Peregrina bin und eine Albergue suche. Er kommt. Ich erwarte einen missmutigen Kioskbesitzer, als ein Mönch in kompletter Montur um die Ecke biegt. Er führt mich freundlich schweigend um ein paar Ecken und schließt mir einen großen Raum auf. Er meint schulterzuckend, ich wäre heute wohl die einzige. Die Herberge ist gelinde gesagt schlicht, aber ich bin überglücklich und fühle mich auch sehr wohl. Ich suche meine Duschsachen heraus, als ein kleines Männchen mit ausgebreiteten Armen zur Tür herein gesegelt kommt. Ich bin etwas unschlüssig, entscheide mich dann aber für eine Umarmung, wobei er mir noch einen Schmatzer auf die Wange gibt. Er heißt mich sehr herzlich willkommen, erklärt mir die Dusche einen Stock tiefer, erklärt mir, dass er mir um halb 9 ein Abendessen bringt und morgen Frühstück um halb 8, dass es um 19.30 eine Messe hat (und ich die Tür einfach kräftig drücken muss, sie wäre etwas schwergängig). Er erzählt schnell den ganzen Ablauf, wann was auf baskisch und was auf spanisch kommt und strahlt und wuselt und ist auch schon wieder weg, weil er noch in die Küche und in den Garten muss. Ein sehr herzlicher und freundlicher Gärtner.

Ich dusche blitzschnell und finde sogar noch Zeit, meine Sachen auszubreiten, ein Bett auszutesten und etwas zu kehren, bevor ich in die Messe gehe. Mit dem letzten Glockenschlag kommt auch der letzte der 7 Mönche hereingeschlurft – und mit einem gewissen Schrecken erkenne ich auch den vorigen Herrn Gärtner in einem Mönchsgewand wieder.

Außer mir sind nur zwei weitere Damen in den Kirchenbänken, es herrscht also eine heimelige Familienatmosphäre. An den Mönchen kann ich mich gar nicht sattsehen, es ist schon eine sehr lustige und charismatische Gruppe. Mein eben noch so überschwänglich strahlender Gärtner sieht vergleichsweise seriös aus, während der junge Mönch neben ihm ziemlich unschlüssig in seinen Liedtexten blättert und vermutlich einfach nicht lesen kann. Der nächste Mönch ist sicher weit jenseits der 80, sehr vornübergebeugt und vermutlich bei der Gelegenheit auch zwischenzeitlich einem Nickerchen nicht abgeneigt. Mein Herr Rezeptionist ist auch noch vergleichsweise seriös und gähnt zwischendurch nur herzhaft, während daneben ein riesiger Mönch steht, der aussieht, wie frisch aus einem Büro entwendet. Zudem ist er recht erkältet, niest im Minutentakt klangvoll und kramt dann plakativ in seinem weitausladenden Ärmel nach einem Taschentuch, das er nach ausgiebiger Betrachtung wieder ähnlich aufwendig in die Tiefen des Ärmels zurückkramt. Ein weiterer Mönch sieht sehr jung aus und irgendwie fremdländisch, ist aber vergleichsweise sehr ernsthaft bei der Sache. Seine blütenweißen Turnschuhe schauen höchst korrekt unter der Kutte hervor. Mein absoluter Favourite ist allerdings ein Mönch mit einer Art Schürze, der in karierten Pantoffeln zwischendurch immer wieder irgendwelche Lockerungsübungen macht und eine Stimme hat, die etwa 3 Oktaven tiefer ist als alles, was ich jemals gehört habe. Ich bin sehr fasziniert und beeindruckt, allerdings vielleicht eher von den Mönchen als von der göttlichen Stimmung.

Ich bin schon in freudiger Erwartung meines Essens, als statt des Mönchs plötzlich ein weiterer Pilger ans Fenster klopft. Es ist ein Spanier mittleren Alters, und im ersten Moment bin ich nicht so begeistert darüber. Zum einen habe ich mich so auf meine besinnliche Einsamkeit hier im Kloster gefreut, zum anderen habe ich auch zum ersten Mal ein mulmiges Gefühl, allein mit einem Mann zu übernachten. Irgendwas an Miguel gefällt mir nicht, er hat so ein rastloses Flackern in den Augen und ist generell eher hektisch und nervös. Bei einem Pilger wie Frans hätte ich da weit weniger Bedenken.

Der gärtnernde und kochende Mönch serviert strahlend unsere Suppe für den Abend, die auch recht klösterlich schlicht ist. Für heute passt es hervorragend, aber auf Dauer käme bei solch einer Verköstigung ein Leben im Kloster für mich nicht in Frage. Es ist keine Mahlzeit, auf die man sich Stunden vorher schon freuen kann – was vermutlich ja auch genau der Zweck ist.

Miguel steht vielleicht auch deswegen so unter Strom, weil er heute von Zumaia kommt, 40 km. Soviel zum Thema ich mit meiner Mammutetappe. Er leert die Fastensuppe hungrig bis auf den letzten Löffel, um dann duschen zu gehen. Ich nutze die Gelegenheit, mich schnell in mein Schlafshirt zu werfen und für den Rest des Abends schon sittlich schlafsackvertütet zu sein. Samt Schlafsack hüpfe ich dann doch noch ein Bett weiter. Mein Lattenrost hängt derart durch, dass ich mich sonst morgen sicher nicht mehr bewegen kann. Das andere Bett ist von einem Brett unterstützt, und darin schlafe ich dann auch sehr gut.

Meine wunderbare innere Uhr weckt mich wieder gegen 7. Nachdem ich dank des gestrigen Supermarktes heute manierliches Frühstück habe, packe ich später und gehe erst mal ins Gartenhäuschen, wo ich luxuriöserweise heißes Wasser für meinen noch luxuriöseren Mandarin-Orangen-Grüntee habe. Rosa ist auch schon am Werkeln. Sie kommt nochmal auf die heutige Etappe zu sprechen und meint beschwichtigend, ich solle mal lieber nur bis Zumaia, zuviel am Anfang wäre rein gar nicht gut, wenn man nicht trainiert ist. Ich bin wie üblich verunsichert. Als aufmunternde Wegzehrung hält sie mir eine Schachtel Lindt-Schokoladenkugeln entgegen. Und ich faste doch…

Im Sonnenaufgang und bei für den Morgen ungewöhnlich lauen Temperaturen verlasse ich Orio. Es geht eine Weile am Wasser und Hafen entlang, bevor der Weg nach einer Jugendherberge ins Hinterland abbiegt. Ich bin heilfroh, in Orio übernachtet zu haben. Die Jugendherbergen, die es hier in großer Fülle gibt, versetzen mich als Übernachtungsalternative nicht gerade in Hochstimmung. Die Vorstellung, mit 50 pubertierenden Jugendlichen in partytechnischer Bestlaune zusammengepfercht zu sein, entspricht nicht direkt meiner Vorstellung von meditativem Pilgern.

Recht bald habe ich Zarautz erreicht, wo ich als erstes wieder einen Supermarkt ansteuere, um meine Getränkevorräte aufzufitten. Nachdem es schon recht warm ist, nehme ich mir die üblichen Pilgerratschläge zu Herzen, meine Sehnen und Muskeln ordentlich zu wässern. Der Weg führt stur geradeaus der Straße entlang. Ich bin schon fast durch den Ort durch, ohne an den Strand geleitet worden zu sein, sodass ich einen touristischen Abstecher mache, nachdem ich schon in San Sebastian am Sand vorbeigelaufen bin. Ich bin ganz hin und weg von dem um diese Zeit noch fast menschenleeren Strand, über dem eine feine Art Nebel hängt, die in der Sonne erst recht reflektiert und leuchtet. Und natürlich von den Wellen…

Danach geht es in regem touristischem Treiben gut eine Stunde eine Uferpromenade entlang. Neben mir rauschen die Autos, ständig begegnet mir ein herausgeputzter Spaziergänger, während ich schon wieder schwitzend mit Schlapphut und Sonnenbrille in meinen Stiefeln vor mich hinstoffele. Irgendwo an einem Berg in Galicien bei stürmischem Wetter fühle ich mich stolz, eine Pilgerin zu sein. Hier fühle ich mich in erster Linie mitleidig und verständnislos von der Seite angeschaut.

So bin ich dann froh, als der fein geplättelte Weg endlich zu Ende ist und der Camino wieder eher in unberührtes Weideland abbiegt. Ich treffe das dänische Geschwisterpaar vom ersten Tag wieder. Der Bruder lacht wieder etwas unkoordiniert wirr vor sich hin, während die Schwester keine Miene verzieht und nach ein paar Sätzen forschem Smalltalk ebenso forsch voranschreitet. Ich setze mich dagegen erstmal wieder mitten auf die Straße und mache eine erschöpfte Pause.

Es wird ziemlich warm, dafür ist der Weg aber schön und abwechslungsreich. Ich fotografiere begeistert die Blütenpracht am Weg, neben der sich auch Unmengen von Eidechsen sonnen. Weniger begeistert halte ich meinen Foto in die Flora, nachdem ich auch eine sonnende Ratte aufschrecke. Nachdem ich gestern schon versehentlich eine tote, steife Ratte vor mir hergekickt habe, schüttelt es mich richtig. Und ich werfe meinen Fleecepulli, den ich auch nachts als Kopfkissenauflage verwende, nicht mehr ganz so begeistert auf den Weg, um mich draufzusetzen.

Der Blick aufs Meer fasziniert mich ebenso immer wieder wie auch die friedlich grasenden Tiere. Die Kühe mit geschwungenen Hörnern weiden auf einer riesigen, grünen Weide, die Esel und Pferde mit Fohlen haben Meeresblick und eine leichte Brise, auf manchen Arealen picken Hühner über den ganzen Hang verstreut oder leben lustige Konstellationen zusammen, von Schafen und Pferden hin zu Kaninchen und Gänsen.

Auf einem malerischen Weg aufs Meer zu taucht vor mir ein ebenso malerischer Pilger auf. Zum einen trägt er endlich einmal eine Pilgermuschel am Rucksack, zum anderen läuft er ganz unendlich langsam und friedlich. Ich laufe einige Minuten einfach nur genießend hinter ihm her. Er kommt mir bekannt vor, und als wir uns treffen, erkenne ich ihn als den Pilger wieder, den ich am ersten Tag schwitzend von weitem gegrüßt habe. So viele Pilger hat es hier ja eh nicht zu Auswahl. Er kann sich erst nicht erinnern, was ja auch nicht weiter schlimm ist. Dann fällt es ihm aber ein, ich hätte auf dem großen, runden Stein gesessen und meine Sachen in die Sonne gelegt und gegessen und eine SMS geschrieben. Herrje, welch ein Adlerblick und eine Beobachtungsgabe auf 50 m Entfernung.

Er erzählt, gestern mit zwei jungen, schnellen Spaniern ziemlich schnell unterwegs gewesen zu sein. Heute tun ihm nun beide Knie ziemlich weh, weswegen er sich sehr bedächtiges Gehen verordnet hat. Wir reden vielleicht 5 Minuten, aber alles, was er sagt, passt so perfekt zu seinem friedlichen Schreiten. Gelassen, ruhig, besonnen, ausgeglichen, von Innen heraus strahlend. Während er zu einem Kaffee abbiegt, überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Ich habe seit Tagen mit niemandem so richtig geredet, sodass mir bei diesem sympathischen Herrn aus Holland nun bestimmt 10 000 Worte und konfuse Gedanken auf einmal herausgesprudelt sind. Er muss ja einen sehr wirren und abschreckenden Eindruck von mir haben. Ruhiges inneres Strahlen geht anders.

Im Nu bin ich schon in Zumaia, und während ich mich auf eine schattige Bank mit wenig pittoreskem Blick auf eine Hafenanlage plumpsen lasse, ist meine Entscheidung bezüglich der heutigen Etappe eigentlich schon gefällt. Ich fühle mich noch viel zu frisch zum Aufhören – und die Vorstellung auf zwei Kurzetappen erfüllt mich ja schon seit gestern oder noch länger mit ganz tiefem Unbehagen. Trotzdem befolge ich brav Rosas Rat und mache fast eine Stunde Pause, lüfte meine Füße, esse manierlich und horche in mich hinein, bevor ich mich dann mit gänzlich gutem Gewissen an die nächste Etappe mache.

Kurz vor Verlassen der Stadt erstehe ich noch einen Apfel und eine Orange in einem Obstladen an der Straße. Die freundliche Verkäuferin wäscht mir den Apfel auch gleich noch. Das nenne ich Pilgerservice. Am Brunnen trinke ich nochmal fast zwei meiner Halbliterfläschchen aus und befülle neu. Rundum gestärkt geht es dann den Berg zu einer Kirche hinauf, und mit jedem Schritt schwindet die Fitness und kommen die Zweifel. Es ist tierisch warm, mir läuft der Schweiß übers Gesicht – und das, obwohl ich in einer Sauna normalerweise eine Dreiviertelstunde brauche, bis ich das erste Schweißtröpfchen bejubeln kann. Mir gibt zu denken, dass meine gestrigen Mitpilger allesamt die 2-Tage-Version anstreben, in Anbetracht der darauffolgenden Riesenetappe und der noch jungen Pilgerfitness. 2011 war ich schon zweimal joggen, ich bin mir aber höchst unsicher, ob das die von Rosa angesprochene „Topkondition“ heraufbeschwört.

Der kleine Hügel gibt mir den Rest, ich komme glühend heiß an der Kirche an, die zum Glück ausnahmsweise geöffnet hat und etwas Schatten und Abkühlung verspricht. Als ich danach wieder auf die Straße trete, treffe ich ein Pilgerpärchen, das mit Trekkingstöcken in etwa dreifacher Geschwindigkeit an mir vorbeiprescht. Ich hülle mich mit einem klangvollen „hola“ in multinationale Unkenntlichkeit, während die beiden Deutsche zu sein scheinen. Fasziniert beobachte ich das wilde Hacken und Klackern und denke etwas wehmütig daran, dass ich meine ersten Caminos auch derart bestritten habe. Zwischendurch ein erhabenes Schreiten mittleren Tempos, und mittlerweile bin ich bei einem unglaublich langsamen, bedächtigen oder auch hasenfüßigen Schleichen angekommen. Jede größere Steigung lässt mich panisch an meine Wade denken, und so stütze ich mich lieber beidhändig auf meinen tapferen, windschiefen Ex-Weihnachtsbaum, den ich gestern Abend gut erholt dann doch noch weitgehend von den Seitenästen befreit bekommen habe.

Der Weg ist schön, aber mir ist viel zu heiß. Nach einer halben Stunde habe ich schon eine meiner drei Wasserflaschen geleert, und laut Führer kommt ja bis Deba nichts mehr. Umso erleichterter bin ich, als vor mir plötzlich ein großer Park auftaucht- wo der deutsche Pilger gerade an einem Brunnen Wasser verspritzt. Ich trinke gleich nochmal eine Flasche leer und beschließe, so lange im Schatten zu bleiben, bis ich wieder kühl bin- und vor dem Losgehen dann gerade nochmal einen halben Liter zu trinken.

Zu meiner Freude kommt auch der langsame Holländer den Weg entlang und fragt, ob er sich zu mir unter meinen schattigen Baum setzen darf. Wir plaudern weit länger, als ich wirklich zum Abkühlen brauche. Frans trägt nicht nur eine stilvolle Jakobsmuschel am Rucksack, sondern auch ein Kreuzchen um den Hals, und im Vergleich zu meinen bisherigen Pilgerbekanntschaften, die größtenteils nur mal 10 Tage an der Küste entlangwandern wollen, will er wirklich bis nach Santiago. Er geht den Camino für seinen Sohn. Dieser hätte geheiratet, sich aber ein paar Monate später gleich wieder getrennt, dabei wäre die Frau perfekt gewesen. Hübsch, gutaussehend, attraktiv und schön (stimmt, was will man mehr). Und seitdem wäre er einfach auf keiner manierlichen Bahn mehr. Parties und Bekanntschaften, und das nun schon seit 4 Jahren. Damit das wieder anders wird, läuft der Papa jetzt intensiv betend den Camino. Meine zögerliche Frage, wie alt das Sorgenkind denn wäre, ergibt 30. Herrje, wenn meine Eltern bei meinen Brüdern und mir ähnliche Maßstäbe anlegen würden, kämen sie ja aus dem Pilgern nicht mehr heraus.

Grundlegend verstehe ich aber, was Frans meint. Er wirkt sehr weise und lebenserfahren und macht es bei seinem Sohn vermutlich auch richtig. Man merkt ihm an, wie schwer es ihm fällt, gelassen hinzunehmen, dass sein Sohn natürlich noch nicht diese Lebenserfahrung und Gelassenheit hat und seine eigenen Erfahrungen und Fehler erst selber machen muss. Aber er ist durch und durch faszinierend. Mich beeindruckt schon zutiefst seine Erzählung über seinen Beruf und seine Firma. Seine Frau und ein Sohn arbeiten darin mit, und als er beschlossen hätte, den Camino zu machen und in dieser Zeit nicht verfügbar zu sein, hätten sie verunsichert gemeint, was sie denn machen sollten, wenn es Probleme geben würde. Er sagt auf eine sehr schöne Weise, dass er es ihnen zutraut, diese Probleme zu lösen.

Ich mache mich wieder auf den Weg, nachdem ich nochmal intensiv Wasser getankt habe. Der Austausch mit Frans hat mich sehr glücklich gemacht, es war ein großer Hauch von Caminogefühl.

Weit komme ich nicht, bald bin ich schon wieder überhitzt. Ich mache bald im Halbstundentakt Pausen, sobald sich irgendwo ein Schatten ergibt. Für die Schönheit des Weges habe ich kaum mehr Augen.

Kurz vor Itziar bin ich nach einem Aufstieg so k.o., dass ich nicht einmal mehr das schwergängige Gatter aufbekomme. Ich lasse mich auf einen Stein davor plumpsen, obwohl er gerade einmal halbschattig ist. Mein Gesicht fühlt sich furchtbar heiß an, im Moment habe ich nicht einmal mehr die verschwitzen Sonnenmilchbäche über der Nase. Das Nachcremen wird erschwert, weil mittlerweile eine Art Salzkruste auf den Wangen angetrocknet ist, es fühlt sich an wie ein unfreiwilliges Peeling. Mir platzt schier der Kopf, wenn mir nicht zur Abwechslung gerade mal ordentlich schwindelig wird. Einen Sonnenstich kann ich bei meinem Mützchen ja wohl kaum bekommen haben, und auch einen Hitzschlag kann ich mir nicht erklären, schließlich bin ich mittlerweile wohl bei Trinkliter 7 und eigentlich nur noch im Wechsel am Trinken und Landschaft Bewässern.

Die dänischen Geschwister überholen mich. Der Bruder sieht beruhigenderweise ähnlich verschwitzt und etwas daneben aus, seine Schwester dagegen läuft immer noch ungerührt und topfit mit resolutem Schritt ein paar Meter voraus. Das schockt mich schon wieder so, dass ich wieder eine Bodenpause in einem moderaten Halbschatten mache. Ich fühle mich überfordert und einsam. Während ich mich noch unbestimmt nach vertrauter Gesellschaft sehne, piepst mein Handy. Ich bin baff erstaunt und gerührt über die Gedankenübertragung, und die Minuten, die ich zum mühsamen Tippen einer Rück-SMS brauche, reichen auch schon wieder zum etwas Abkühlen.

Irgendwann kommt Deba in Sicht, ich bin unendlich erleichtert. Als erstes taucht auch gleich die Sporthalle auf, in der laut Führer eine Herberge sein könnte. Sehr belebt sieht es nicht aus, und ich zögere fast schon, 100 m umsonst durch die pralle Sonne über den Sportplatz zu laufen, um dann doch vor einer verschlossenen Tür zu stehen. Sie ist wirklich zu. Ich teste noch eine andere Tür an einer anderen Sporthalle, aber das sieht hier sehr unbelebt aus. So laufe ich dann doch den Weg weiter hinunter, und er geht furchtbar steil hinunter. Meine eh schon sehr müden Beine nehmen mir diesen Abstieg sehr übel, zu den Waden schmerzen plötzlich die Knie und die Hüften.

Mit hämmerndem Kopf und halb Sternchen, halb Sonnenmilch vor den Augen stürze ich mich auf den erstbesten Mann, der gerade seinen Garten wässert und frage nach der Albergue de Peregrinos. Er guckt mich recht bedenklich an und läuft auch wieder gleich ein paar Meter mit mir mit, um mir die Richtung zu zeigen. Wo die Herberge genau ist, weiß er nicht, aber ich soll auf alle Fälle mal hinunter in die Stadt, wozu es segensreicherweise 2 Aufzüge gibt. In denen fahren gerade hauptsächlich schicke Büroleute spazieren, während ich wohl aussehe wie kurz vor dem Umfallen.

Unten find ich zwar den Camino, aber keine Herberge weit und breit. Ich bin nicht besonders durchdacht, sondern wandle mechanisch den Pfeilen nach. Ich dümple wohl schon Richtung Ortsausgang, als von einer Bank im Schatten der Däne winkt. Schatten ist prima, und wo die Herberge ist, weiß er zwar auch nicht, aber seine Schwester erkundigt sich gerade bei der Touri-Office. In die Schwester habe ich volles Vertrauen, und sie kommt auch schon zielsicher mit versteinerter Miene wieder die Straße entlang. Sie schultert wortlos den Rucksack, informiert uns kurz „am Ende der Allee“ und trommelt auch schon wieder wie ein Aufziehmännchen los. Wir stolpern recht geistig umnachtet hinterher. Der Däne erzählt, dass er es mit der Hitze nicht so hat, gestern ging bei ihm abends schon gar nichts mehr. Auch heute hat er ein patschnasses T-Shirt, die Kopfhörer hängen ihm wirr halb aus den Ohren, aber immerhin therapiert er sich gekonnt mit einer Dose Energydrink.

Am Ende der Allee findet sich wirklich neben dem Roten Kreuz eine Tür mit Aufschrift Pilgerherberge. Ein Spanier in der Tür lässt uns nicht hinein, wir müssten erst zur Polizei, um uns anzumelden. Und die ist wieder mitten in der Stadt, wo wir gerade herkommen. Ich bin nah dran, umzufallen bzw. rechne jeden Moment mit einer finalen Kapitulation meiner Wade. Selbst die Dänin ist für ihre Verhältnisse erschöpft und fragt, ob wir nicht wenigstens die Rucksäcke hierlassen könnten. Allerdings spricht der Spanier Spanisch und sie ungerührt Englisch, sodass er nicht gleich zustimmt. Sie fordert mich auf, das zu klären, schnappt sich im nächsten Moment aber auch schon den nur mit Handtuch um die Hüften aus der Dusche kommenden Deutschen und donnert ihn mit ihrer Problematik zu. Die Rucksäcke stellen wir nun einfach schon mal rein (zumal sich der Spanier auch nur als Pilger entpuppt)- und ich bin gelinde geschockt von der Herberge. Durch den Flur kommt man mit Rucksack schon kaum, und der Schlafsaal ist ein winziger Raum, in den 3 Betten passen, die aber dafür zum Teil dreistöckig. Ich habe ein klappriges, altes Metallbett direkt vor der Nase, welches in 3 m Höhe von einem winzigen dünnen Metallstängchen gesichert wird. Zum Glück muss ich nur in die zweite Etage, aber der Schock bleibt.

Wir laufen wieder zu dritt in die Stadt. Von dem Spanier habe ich einen Stadtplan in die Hand gedrückt bekommen. Die Dänin rast voraus, und nach ein paar Minuten bin ich etwas besorgt, weil ich zwar den materiellen Plan in Händen halten, aber trotzdem keinen Plan habe, wohin wir gerade eigentlich düsen. Ich stelle meine Unsicherheit mal zaghaft zur Diskussion, woraufhin mir die Dänin resolut den Plan entreißt und weiterhechtet. Eine Powerfrau durch und durch, und vermutlich 10 Jahre jünger als ich.

Der Polizist guckt uns regungslos und desinteressiert an, kassiert 5 Euro und stempelt kommentarlos unsere Credenciales. Mir ist ein bisschen zum Heulen zumute. Immerhin findet sich auf dem Rückweg noch ein winziger Laden mit sehr einfallsreich angeordnetem Sortiment, aber immerhin hat es alles Wichtige zum Abendessen, und ich bekomme sogar ein Baguette halbiert. Die Käsetheke verlasse ich fluchtartig, als sich der Verkäufer freundlich dem Käse zuwendet, nachdem er gerade noch in einem halben vermutlich Schwein gewühlt hat.

Nachdem ich heute doch recht geschafft von der Etappe bin, entscheide ich mich schweren Herzens zu Ballast-Abwerfen. Heute morgen bereits habe ich meinen Nasenspray entsorgt, und auch die kostbaren Erkältungstropfen stelle ich nun in den herbergseigenen Erste-Hilfe-Kasten. Vermutlich erleidet meine Erkältung nach mittlerweile 4 Tagen einfach keinen Rückfall mehr. Ebenfalls trenne ich mich von 100 g portugiesischem Meersalz. Irgendwie hätte ich die Idee sehr schön gefunden, jahrelang mit einem Hauch von Camino zu salzen, aber vielleicht tut es der verbleibende Rest ja auch. Ich halte gerade meinen Regenschirm in Händen, als der spanische Radpilger in die Herberge kommt. Mir ist das fast peinlich, dass ich überhaupt einen Schirm dabei habe und witzele, dass ich den jetzt ja wohl wirklich nicht brauchen werde. Er guckt recht ernst und meint, zum Wochenende sollte sich das Wetter ändern. Und bei der großen Hitze könnte man ihn ja als Sonnenschirm gebrauchen. Das habe ich noch gar nicht überlegt. Ich packe ihn vollauf überzeugt wieder ein.

Nachdem ich geduscht habe, bin ich einen kleinen Hauch von versöhnt mir der Herberge. Es hat sogar Duschgel und Seife und in dem engen Flur immerhin eine Waschstelle, eine Wäscheleine und sogar eine Zentrifuge. Der Schlafraum wird davon weder wohnlicher noch größer, aber mit Blick auf die Karte stelle ich fest, dass wir direkt am Strand wohnen. Ich habe meinen Beinen versprochen, heute keinen Schritt mehr zu laufen, allerdings scheinen 20m zum Strand legitim zu sein, zumal ich eh noch Abendessen muss und das in der Herberge nur auf meinem Bett machen könnte.

Der Strand liegt schon in leichtem Abendrot und ist bis auf ein paar Surfer weitgehend menschenleer. Die Strände bisher lagen mitten in einer Etappe, sodass ich noch nie gebadet habe. Abgesehen von meinen lustigen Kompressionstrümpfen klingt mir die Warnung aus einem Führer im Kopf, dass kühles Wasser zwar verlockend ist, aber die Blasenbildung am aufgeweichten Fuß massiv begünstigt. Heute kann ich also zum ersten Mal meine Füße ins Meer strecken – und kriege bei jeder Welle schier einen Schreikrampf, so kalt ist das Wasser. Aber sicher gut für die Beine. Arg! Huah! Aaaaah!

Ich sehe mich schon entweder in eine Glasscherbe treten, einen meiner Crocs-Imitate davonschwimmen oder meinen Foto oder mein Abendessen ins Meer plumpsen. Aber alles geht gut, und ich esse anschließend gemütlich auf dem Strandmäuerchen mein halbes Baguette, einen Gemüse-Thunfisch-Salat und eine ganze Dose Fruchtsalat. Manchmal bin ich beim Einkaufen zu optimistisch bezüglich meines tatsächlichen Hungers.

Zurück in der Herberge trifft zu später Stunde gerade noch Frans ein. Naheliegenderweise ist er auch ziemlich durch den Wind und auch nicht sonderlich angetan von der Bettensituation, nachdem für ihn die dritte Etage bleibt. Angesichts seiner eh schon lädierten Knie würde ich ihm ja gern einen Tausch anbieten, allerdings habe ich schon in meinem 2. Stock Höhenangst. Er wirkt auch etwas resigniert, zumal jetzt kein Supermarkt mehr offen hat und niemand in der Herberge ist, der mit ihm zum Essen ausgehen könnte. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dann früh in meinen Schlafsack zu verschwinden. Er ist so ein sympathischer Pilger, und ich hätte gern irgendetwas zur Aufheiterung beigetragen.

Dass ich in einer höchst modernen Herberge logiere, dämmert mir im wahrsten Sinne des Wortes mitten in der Nacht, als ich mich wackelig mit meiner Taschenlampe Richtung Toilette aufmache. Alle paar Meter geht tickend und klickend dank Bewegungsmelder ein weiteres Licht an. So überstehe ich die Treppe ins Kellergeschoss zwar ausgesprochen schadlos, dafür tun mir meine Mitpilger leid, die nun mitten in der Nacht Festbeleuchtung haben. Vermutlich haben sie es friedlich verschlafen.

Ich wache gegen 7 erneut auf, ein Blick aus dem kleinen Fenster verleitet gleich zu einem Foto.

Das zarte Hintergrundkreischen der Möwen macht mir schon wieder die üblichen Hummeln im Hintern, ich kann da einfach nicht liegenbleiben, wenn ein Tag anbricht. Zum Glück geht es meinen Mitpilgern ähnlich, sodass ich ohne schlechtes Gewissen packen kann und gegen halb 8 im Morgenerwachen wieder unterwegs bin.

Zuerst geht es mit einem kleinen, grünen Bötchen auf die andere Seite. Im Örtchen regt sich sonst noch nichts, und vermutlich bin ich auch so etwa der erste Passagier am heutigen Tag. Ich suche mir einen Platz auf einer Bank draußen, die der aufmerksame Fährmann schnell noch mit seinem Taschentuch für mich trockenwischt. Die paar Sekunden Überfahrt sind eine besondere Erfahrung, ich bekomme noch alles Gute bis Santiago mit auf den Weg gewünscht und starte ganz beseelt in den Tag.

Wenn schon nicht gestern, so darf ich heute zumindest nach vorne zum Meer laufen, wo es mit sehr steilen Treppen fast etwas beängstigend in die Höhe geht. Unter mir schlagen die Wellen gegen die Felsen, während einzelne Fischerboote zurückgetuckert kommen, umgeben von Schwärmen kreischender Möwen. Ich bin absolut begeistert und kann nur jeden zweiten Meter „Wahnsinn, Wahnsinn“ denken. Ungefähr 100 Fotos später kommt dann auch noch die Sonne hinter den Bergen hervor und taucht das Meer in verschiedene Schattierungen von Licht. Estupendo.

Zu dem schönen Leuchtturm Faro de la Plata darf man leider nicht hinauf, aber dafür geht es wieder wunderschön hoch über dem Meer entlang, vorbei an altertümlichen Brückenüberresten.

Ich bin fast schon irritiert, als plötzlich mit lautem Lärmen die Zivilisation in Form von vermutlich einer Schule wieder Einzug hält. Auf einer Fahrstraße geht es munter auf und ab, als ein weißer Lastwagen an mir vorbeifährt, der kurz darauf in Gegenrichtung nochmal anhält und fragt, ob ich nach Santiago will. Es hätte oben am Berg eine Bäckerei, wenn ich wollte. Ich erinnere mich dunkel, etwas Seltsames von einer ökologischen Bäckerei einer Glaubensgemeinschaft gelesen zu haben, kann aber ein Brot sehr gut gebrauchen und bedanke mich. Ein paar Momente später taucht mit einem einladenden Schild der Abzweig zur Rechten auf, und vom Weg kommt mir eine Frau mit Kindern entgegen, die alle ein wenig nach Kelly Family aussehen und mich auch schon wieder strahlend einladen, ob ich frühstücken will. Etwas zögerlich und reserviert lehne ich das mal mit Hinblick auf meine fastenzeitlichen Essgewohnheiten dankend ab, aber von der Bäckerei hätte ich sehr gerne etwas. Die Frau zeigt mir eine Tür, die eher nach Backstube als nach Ladentheke aussieht. Drinnen steht ein blütenweißer Bäcker vor einem tollen Steinofen, und ich stehe ziemlich zögerlich vor der Tür, ja, ja, ich solle nur reingehen, das wäre die Bäckerei. Alles sehr wunderlich, werde ich von einem strahlenden jungen Mann aus Israel empfangen, der mir nicht nur die diversen Brote zeigt, sondern mir natürlich gleich noch das Konzept der Glaubensgemeinschaft darlegt. Die Brote sind der Hammer, vor allem seine Sprachkenntnisse. Zwischendurch wirft er in seinen englischen Vortrag immer wieder etwas wie „Sauerteig“ oder „Dinkel“ oder „Roggen“ ein, was ich im ersten Moment überhaupt nicht verstehe und zuordnen kann. Ich entscheide mich für ein dunkles Roggenbrot (aus Getreide eines Glaubensgemeinschaftsablegers aus Deutschland) und möchte so ein lecker aussehendes Minibrot mit Kernchen, das gerade blecheweise herumliegt. Das wären „Seelen“ (ich raffe auch schon wieder ewig nicht, dass das wieder ein deutsches Wort ist, ich bin so spanisch und englisch verwirrt), aber leider hätten sie das Salz vergessen, deswegen wären die jetzt auch nicht in den Verkauf nach San Sebastian gelangt. Macht nichts, ich nehme trotzdem so eine und meine, Salz wäre ja eh nicht so gesund. Der Bäcker klärt mich ernsthaft auf, dass man das so nicht sagen könnte, es gäbe ja solches und solches Salz. (Ich fühle mich an Angelo erinnert, dass es tote und lebendige Worte gibt). Es gibt totes Salz, oder es gibt das Salz, das sie verwenden. Er führt mich zu einer riesigen Schublade mit klumpigerem, leicht rosa gefärbtem Salz, welches in Portugal aus dem Meer handgeschöpft wird (vermutlich von einem weiteren Ableger der Glaubensgemeinschaft), und welches alles mögliche Gesunde enthält und mir auch irgendwie die Ausstrahlung von Salz des Lebens hat.

Der Aufenthalt ist gleichermaßen beeindruckend wie etwas skurril. Alles ist unheimlich sauber und märchenhaft von den frühen Sonnenstrahlen lichtdurchflutet. Ständig laufen Erwachsene und Kinder durch die Gegend, die mich alle aus tiefstem Herzen anstrahlen. Der Israeli erzählt mir gut eine halbe Stunde kaum zu unterbrechen von seinen Suchen im Leben und dass er hier seinen Hafen gefunden hat. Zum Abschied schnappt er sich noch eine Tüte und füllt mir einen Haufen Spezialsalz hinein. Ich bekomme eine Visitenkarte von einer weiteren Filiale in San Sebastian, zu der ich unbedingt noch gehen soll. Ich bin schon halb weg, als er mir noch eine Broschüre zum Lesen mitgibt.

Die nächsten Kilometer bin ich ziemlich durcheinander und nachdenklich. Ich schwanke sehr hilflos zwischen unglaublichem Wohlgefühl und einer genauso großen Reserviertheit und Misstrauen. Ich denke über die Grenzen von Freundlichkeit und dem Übergang zu einer Sekte nach. Und über das Lebensmodell, seinen Frieden in einer idyllischen Glaubensgemeinschaft zu finden, in der jeder unheimlich friedlich von innen heraus strahlt und es haufenweise Kinder gibt, die sich alle etwas erschreckend ähnlich sehen. Der Israeli meinte, er hätte irgendwann eingesehen, dass es keinen Sinn macht, vor seinen Problemen davonzulaufen. Ist es ein richtiges Sich-der-Welt-Stellen, wenn man mit 18 anderen Leuten in einer eigenen Welt lebt, in der die Kinder zu Hause unterrichtet werden, alle lange Bärte tragen und die Frauen in recht speziellen wallenden Gewändern sittlich verhüllt werden? Ich denke viel nach über die beeindruckenden Aussagen des Bäckers, bin mir aber sehr sicher, in San Sebastian die Filiale nicht aufzusuchen, auch wenn es ihn vermutlich enttäuschen wird.

Durch den Wald des Monte Ulia geht es mit beeindruckendem Blick auf den langen Sandstrand von San Sebastian bergab. Auf der Suche nach einem Supermarkt stolpere ich erst einmal über eine Kirche, der ich kurz einen Besuch abstatte. Dann frage ich mich nach einem wirklich tollen Supermarkt durch, bei dem ich auch schon wieder eine halbe Stunde brauche, weil ich mich nicht entschließen kann, was ich nun essen und mitnehmen will und was gewichtlich zumutbar ist. In einem unbeobachteten Moment wiege ich schnell meinen Salzbeutel, der mich mit 150g schwer schockt. Auch meine Hustentropfen und mein Nasenspray finden den Weg auf die Waage, hatte ich zu Hause doch noch das Gefühl, schwer erkältet zu sein. Wundersamerweise fühle ich mich aber seit Eintreffen in Spanien wie blitzgeheilt, dafür wirkt mein Rucksack unnötig schwer.

Schwer beladen mache ich mich auf zum Strand, auf dem es aber vor Hunden derart wimmelt, dass ich mich reichlich unromantisch auf eine Bank direkt an der Uferpromenade setze, minutenlang umkurvt von einem Straßenkehrmaschinchen. Ich breite meine diversen Leckereien aus, kippe Olivenwasser ab und fische ölige gebratene Paprika tropfend aus meinem Glas. Mitten in meinem tütentechnischen Chaos voller Brotkrümel stehen plötzlich meine beiden Mitpilger aus der Herberge vor mir. Ich fühle mich irgendwie etwas unwohl, habe das Gefühl, irgendwo im Gesicht ganz viel Mehl oder Paprikaöl zu haben und bin fast erleichtert, als sie weitergehen, um einen Kaffee trinken zu gehen. Irgendwie fühle ich mich auch nicht so richtig dazugehörig. Die Vorstellung, diesen wunderschönen Morgen in Gesellschaft zu verreden, reizt mich nicht. Ebenso wenig eine Bar, wohingegen die beiden vermutlich von meinem Selbstversorgerchaos und meiner Abschottungstendenz etwas irritiert sind.

Auch das vielgepriesene San Sebastian reizt mich überhaupt nicht. Als Pilger ist es ein sehr komisches Gefühl, Einkaufsstraßen entlang zu laufen. Es wimmelt von wohlgekleideten Menschen, vorwiegend älteren Damen mit perfekt gehaarsprayter Frisur, etwas zu rotem Lippenstift und Designertäschchen. Die Uferpromenade wird erdrückt von pompösen Geländerverzierungen – und auch wieder gefühlten 5 Leuten pro Quadratmeter. Ich wühle mich mühsam durch die Massen, bin langsam auf der Suche nach einem WC und werde irgendwann immer verzweifelter. Ich sehe mich schon inmitten der High Society auf die Nobelpromenade pinkeln. Als letzte Rettung findet sich glücklicherweise am Ende der Promenade dann doch noch ein geöffneter WC-Komplex. Etwas ernüchtert stelle ich fest, dass ich durch ganz San Sebastian durchgeprescht bin und leider vor lauter WC-Suche gar nichts von einer eventuellen Schönheit mitgenommen habe. Allerdings sind die großen Sehenswürdigkeiten und Orte erfahrungsgemäß einfach nichts für mich. Pilger und Tourist lässt sich für mich schwer vereinen; eigentlich ist es ja mein Camino, und wenn ich mich wohler in der Natur fühle und das Sightseeing mich eher mit Unwohlsein erfüllt, sollte ich mir vielleicht diese Freiheit ohne Gewissensbisse herausnehmen.

Hinter San Sebastian geht es munter den Berg hoch. Ich bin mit einem Mal ziemlich erschöpft und unlustig, zumal es auch recht warm ist. Ich mache schon wieder eine große Pause und probiere meine frisch erstandenen Gummihandschuhe. Vor dem Camino kam mir die Idee, Kompressionsstrümpfe auszuprobieren, nachdem ich bei einer Sportvariante gelesen hatte, dass sie die Muskelvibration herabsetzen könnten. Nachdem ich nicht weiß, was meine komische Wade immer wieder zum Anschwellen bringt, ich aber einen ziemlichen Horror davor habe, ist es ein verzweifelter Versuch, der sich gestern gut bewährt hat – bis auf die Tatsache, dass mein gewichtssparender Gedanke, sie einfach mit Socken über den Händen anzuziehen, keine gute Idee war. Nach zwei morgendlichen verzweifelten Kämpfen nun also mit Gummihandschuhen (80g, der supermärktlichen Gemüsewaage sei dank) der Anbruch einer neuen Ära. Recht erschossen auf meinem Bänkchen gegenüber einer Hotelanlage bin ich sicher ein Bild für Götter, wie ich mit quietschenden beigen Handschuhen an meinen schicken beigen Kniestrümpfen herumzerre. Ich habe wirklich Glück, dass mich in diesem Moment nicht gerade wieder freudig ein Pilger entdeckt.

In fröhlichem Auf und Ab erklimme ich entlang der Straße den Monte Igeldo, entlang von eleganten Villengegenden im Wechsel mit Weiden am Meer.

Ich bin generell recht platt und tröste mich damit, dass es erst mein zweiter Tag ist und ich mich ja auch erstmal wieder ans Pilgern gewöhnen muss. Trotzdem bin ich heilfroh, als nach einer halben Ewigkeit durch Wälder und Weiden am Meer entlang ein gelbes Haus zur Rechten auftaucht, an dem etwas von Orio steht. Allerdings nicht direkt etwas von Herberge. Sicherheitshalber konsultiere ich meinen Führer, der erst mitten im Text ist, etwas von höchstem Punkt erzählt und dass es von einem ominösen Schild dann immer noch eine Stunde bis nach Orio ist. Ich falle schier um.

Das Schild findet sich irgendwann, ich bin richtiggehend erleichtert, überhaupt auf dem richtigen Weg zu sein. Intuitiv festigt sich ein Grundmisstrauen, dass ich so erschöpft jetzt vielleicht auch noch eine Stunde in eine falsche Richtung rennen könnte. Das angekündigte „steile Bergab“ gibt mir den Rest, ich soll unter einer Autobahn durch, die irgendwie kilometerweit unter mir ist. Im Moment erscheint mir der Abstieg vom Jaizkibel dagegen wie ein Klacks. Obwohl ich mich alle Viertelstunde mitten auf den Weg setze, um auszuruhen, sind meine Beine einfach völlig müde und kraftlos. Keine guten Voraussetzungen, sodass ich wenigstens nach einem Stock suche, um den Abstieg erträglicher zu machen. Stöcke hat es genug, aber alle sind dermaßen morsch, dass sie wenn nicht beim bloßen Anschauen, dann zumindest beim ersten Belasten krachen. Ich bin ziemlich verzweifelt, zumal schon wieder alles verdächtig verhängnisvoll zieht. Irgendwo finde ich dann ein nichtmorsches Holz, allerdings sieht es aus wie ein ausrangierter Weihnachtsbaum mit 20 Verästelungen, die ich im Moment nicht mal mehr richtig wegbrechen kann. Abgestützt auf einen wild verästelten Komplettbaum schleppe ich mich also ins Tal.

Kurz vor der Autobahn sehe ich auf der gegenüberliegenden Seite in der Ferne eine Pilgersilhouette – das fröhliche Stück „steil bergauf“ habe ich aber erst noch vor mir. Als dann endlich, endlich eine Siedlung beginnt und ein Albergue-Pfeil links um ein Haus herum weist, bin ich sehr, sehr froh.

Mein erster Blick fällt auf eine liebevoll eingerichtete (unbesetzte) Rezeption sowie den Schlafraum mit einer Pilgerin, die sich gerade ähnlich k.o. duschfertig macht. Auf meine Frage, ob es hier auch einen Hospitalero hätte, guckt sie verstört geschockt. Wer weiß, was ich da jetzt wieder komisches auf Spanisch gesagt habe. Auf alle Fälle gibt es eine Klingel, auf die dann auch sogleich Rosa, eine resolute Dame mittleren Alters, angesprungen kommt. Mit viel Pilgererfahrung beherrscht sie das „Spanisch für Anfänger“, indem sie alles zwar Spanisch, aber schön langsam und mit viel Betonung und Gestik erklärt. Vor allem hat es eine Zentrifuge sowie ein extra Gartenhäuschen mit einer voll funktionsfähigen Küche, ich bin begeistert.

Ich dusche bzw. mache die Bekanntschaft mit einer ausgefallenen Spezialdusche mit Massagedüsen, die sich durch 2 Knöpfe bedienen lässt, die sowohl die Wassertemperatur, die Strahlstärke als auch die Düsenbelegung steuern. Wie, bleibt mir verborgen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Aufteilung mangels eines dritten Knopfes einfach im Minutentakt wechselt. Kaum habe ich das Gefühl, den Temperaturknopf ausgemacht zu haben und drehe noch ein bisschen wärmer, schießt es statt tropfendem Tropenregen von oben plötzlich quer aus den waagerechten Massagedüsen. Während ich schnell zum Tropenregen zurückrudern will, kommt dafür mit noch mehr Druck plötzlich eiskaltes Wasser. Ich bin fast am Verzweifeln, schaffe es aber irgendwann zumindest auf eine angenehme Temperatur und ignoriere einfach die Tatsache, dass es mit Hochdruck donnernd an die Kabinenwand spritzt und die Pilgerin nebendran (aus einer leise plätschernden Dusche) sich wahrscheinlich ihren Teil denkt.

Diese stellt sich als Deutsche heraus, was auch den irritierten Blick anlässlicher meiner spanischen Hospitalerasuche erklärt. Sie ist ganz lustig furchtbar langsam und bedächtig. Na ja, sie hatte ja auch nicht den Adrenalinkick des Kampfs mit einer wildgewordenen Donnerdusche.

Ich mache begeistert großen Waschtag, zentrifugiere sicher einen halben Liter Wasser heraus und hänge die eh schon fast trockenen Sachen auf die Leine in die strahlende Sonne. Der Halblatino trifft ähnlich erschossen ein, nur von der Schweizerin fehlt noch jede Spur.

Ich springe schon wieder (Erschöpfung und Entspannungsvorsätze waren gestern) ins Örtchen, wo es gleich mehrere Supermärkte geben soll. Leider habe ich nur mein Nachmittags-T-Shirt an und friere im leichten Wind fast ein bisschen. Ich beschließe, die Existenz einer Küche auszunutzen und mir meine traditionelle Caminopaella zu kochen. Ferner gibt es lecker aussehende Erdbeeren und Frühstücksleckerli; gepaart mit Wasser und Fruchtsaft und einer Schokolade für den Halblatino schleppe ich schon wieder eine Riesentüte den Berg hoch. An der Herberge ist nun doch auch die Schweizerin gerade am Einchecken. Sie hat sich üblich risikofreudig für den rot-weißen Küstenweg entschieden, der deutlich länger und ambitionierter gewesen zu sein scheint. Ihre Arme sind ziemlich verkratzt. Das käme aber nicht vom Küstenweg, sondern sie hätte unterwegs eine Ziege getroffen, die sich mit ihrer Leine in einem Ginsterbusch verheddert hätte. Die hätte sie dann lieber mühevoll befreit.

Die anderen drei nehmen Abendessen in der Herberge, sodass ich ein bisschen unentschlossen mit meiner Tiefkühlpaella dastehe, die dann doch keine so gute Idee war. Ich bin dann aber fast froh, in Ruhe vor mich hinköcheln zu können und nicht mit am Tisch sitzen zu müssen. Irgendwie fühle ich mich heute gar nicht wohl in dieser Pilgerrunde. Vielleicht liegt es daran, dass es mir zu deutschsprachig ist, oder daran, dass alle drei recht genaue Ansichten zu allem möglichen haben. Während ich koche, unterhalten sie sich darüber, wie schrecklich der französische Jakobswegfilm „Pilgern auf Französisch“ gewesen wäre, voller Klischees und dass sich die Charakter ja skandalöserweise verändert hätten, was zum Beispiel bei schwedischen Filmen nie der Fall wäre. Ich fand den Film toll, habe mir aber ehrlichgesagt nicht einmal Gedanken gemacht, ob sich da nun ein Charakter wandelt oder nicht und ob das gut ist oder nicht. Ich bin generell eher ein intuitiver Mensch, der am liebsten etwas mit dem Herz fühlt und gar nicht so viel redend zerpflückt. Herztechnisch finde ich überhaupt keinen Zugang zu den anderen, und sie finden mich vermutlich auch recht wunderlich und doof. Ich bin etwas niedergeschlagen, während ich meine viel zu große Portion Paella in mich hineinfüttere.

Rosa, die selber schon oft gepilgert ist, gesellt sich ein Weilchen zu uns dazu und erzählt von den nächsten Etappen. Im Wesentlichen erzählt sie es den beiden fließend Spanischsprechenden, auch da ist die Konversation wieder auf einer (in diesem Fall sprachlichen) Ebene, auf der ich nicht mithalten kann. Sie erzählt von der langen Etappe von Deba nach Zenarruza, 32 km und 9 Stunden, die uns in den nächsten Tagen bevorsteht. Das wäre die schwierigste auf dem ganzen Camino, einfach, weil sie so lang wäre und es eine Berg hätte. Die Herberge in Markina nach 7 Stunden macht leider erst im Sommer auf. Es wäre aber die einzige Schwierigkeit auf dem Camino, sonst würde sich immer etwas finden lassen. Mir liegt da die Etappe hinter Bilbao etwas schwer im Magen, wo auch eine Herberge fehlt und wo ich auch mit noch so viel Nachdenken nur auf irgendeine Horroretappe jenseits der 45 km komme. Nein, nein, das wäre kein Problem, man solle einfach immer auf die Touristeninfo gehen, und die würden immer und überall einen Schlafplatz für einen suchen. Versöhnliche Vorstellung, und sie muss es ja wissen.

Vor der Mammutetappe nach Zenarruza liegen nun noch 31 km, die ich eigentlich morgen laufen wollte, um wieder im Pensum meines Reiseführers zu sein. Der Deutsche stöhnt, dass er ganz sicher keine 30er-Etappe macht, er ist doch nicht verrückt. Nach der heutigen Erfahrung reizt mich die Vorstellung ehrlichgesagt auch nicht, aber zweimal 15 km mache ich erst recht nicht. Rosa empfiehlt, morgen ganz relaxt nach Zumaia zu laufen, dem Ort nach 15 km, dort eine lange Pause zu machen und zu überlegen, ob es noch weitergehen soll oder nicht. Mit guter Kondition wäre das schon machbar, aber eben, lieber nichts überstürzen, weil tags drauf dann ja die Horroretappe kommt. Ich bin etwas unruhig angesichts dieser blöden Etappenplanungen und Entscheidungen zwischen Ehrgeiz, Terminplan, Wohlgefühl und vor allem Vernunft. Rosas Vorschlag ist ja aber durchaus beruhigend.

Während sich das Pilgerkollektiv abendlicher Blasenchirurgie hingibt, gehe ich wieder früh ins Bett – mit zwei wunderbaren Wolldecken ausgestattet. Meine Füße sind glücklicherweise noch vollkommen blasenfrei. Hoffentlich hält nur mein Bein meine ambitionierten Pläne für die nächsten Tage aus.

Die Nacht ist sehr fröstelig. Ich habe wieder nur meinen 9-Euro-Billigschlafsack mitgenommen und häufe im Zuge der Nacht meinen halben Rucksackinhalt über mich, um irgendwie warm zu werden. Wie auch gestern in Bilbao lassen sich die Sorgen schwer abschütteln, wie es bei dieser Kälte weitergehen soll.

Gegen 7 rumort es, erst denke ich an die anderen Pilger. Es ist der Hospitalero, der wohl befindet, dass wir uns so langsam, aber sicher mal vom Acker machen könnten. Ich packe weitgehend schnell zusammen und mache mich auf den Weg. So nach Frühstücken in der kalten Herberge mit diesen netten drei anderen Pilgern ist mir nicht. Zumal ich eh nichts mehr zu essen habe.

Ich frage den Hospitalero, in welche Richtung denn überhaupt der Camino weitergeht. Er winkt wortkarg ab und begleitet mich nicht nur vor die Haustür, sondern marschiert sicher 100 Meter mit mir mit, bis wir an einer Hauptstraße sind, von der er die lange Straße hinunter zeigt und auf dem Berg gegenüber eine Kirche. Ich bedanke mich glücklich, springe aber erst noch über die Straße, wo es eine geöffnete Panaderia hat. Die Auslage an süßen Stückchen ist göttlich, allerdings faste ich gerade Kaffee und Schokolade, sodass nur eine Art Croissant bleibt. Und ich ergattere ein wunderbar geformtes Körnerbaguette, welches kunstvoll in ein Seidenpapier gewunden wird. Es ist so schön, dass ich es außen an meinem Rucksack feststecke. Ich bin erleichtert, nun sowohl Frühstück als auch Notproviant für den Tag zu haben. Einen Supermarkt hat es um die Zeit noch nicht, und meine vage Vorstellung, ja eh noch stundenlang in Hondarribia rumzulaufen, erübrigt sich nach einem Blick in den Führer, der mich schon vorher durch ein Feuchtgebiet zur Kirche hoch leitet.

Kurz vor dem Abzweig hat es dann allen Ernstes noch eine Alimentación, die zu dieser Zeit schon geöffnet hat. Der Besitzer ist ein Original, wortkarg und moderat höflich, aber ich kaufe enthusiastisch seine halbe Kühltheke leer und bin überglücklich über Käse, Chorizo, weiteres Frühstück in Form von Magdalenas und Fruchtsaft.

Das sumpfige Moorgebiet ist zu dieser Zeit recht mystisch in leichten Nebel gehüllt. Von den Zweigen tropft förmlich der Tau – und es riecht auch so richtig schön nach Moor und Moder.

Entlang von ersten Weiden mit unheimlich vielen, sehr kleinen und sehr verregnet dastehenden Pferden wandere ich neugierig in den ersten Sonnenstrahlen durch das erste richtige Örtchen auf meinem Camino. Danach geht es einen ursprünglichen Pfad recht manierlich den Berg hinauf.

Als sich das Wäldchen lichtet, wird zum ersten Mal der Blick aufs Meer frei. Ein Moment, fast so erhebend wie der erste Blick auf Roncesvalles oder auf Santiago. Ich komme ziemlich schwitzend an der Kirche an, wo auch schon das dänische Geschwisterpaar residiert. Ich mache es mir auf einem großen Stein bequem und lege erstmal meine diversen Schichten zum Trocknen aus. Ich mache eine bedächtige Fußlüftpause, schon wieder ein Essenspäuschen und schreibe eine SMS in die Heimat – mit bestem Gewissen, dass ich das Meer sehe und es hier herrlich sonnig, warm und einfach toll ist.

Am anderen Ende des Platzes kommt schon wieder ein Pilger dampfend den Weg hochgeschwitzt. Ich winke auf die Ferne. Der Schweizer ist es nicht, hier ist also ganz schön viel los. Dabei hatte ich befürchtet, eventuell wochenlang völlig allein durch den Regen zu laufen.

Danach geht es Richtung Hügel und an den ominösen Abzweig „für Alpinisten“. Davon fühle ich mich nicht direkt angesprochen, zumindest meine Wade nicht. Aber die Alternative „für die anderen Pilger“ geht auch rein überhaupt nicht. Also munter geradeaus den Berg hoch.

Nach ein paar Metern muss ich lachen. Der Berg ist wirklich der Hammer, ich habe es noch nie so steil und direkt hochgehen sehen. Der Camino Duro auf dem Hauptweg ist dagegen ein Spaß, zumindest immerhin ja ein richtiger Weg. Hier geht es halb die grüne Wiese hoch. Ich bin doch keine Bergziege.

Gefühlte 450 Schritte und 400 Höhenmeter später bin ich dann aber auch schon auf der Höhe angekommen. Und es ist umwerfend. Hinter mir der Blick auf  das Häusermeer von Hendaye, Irun und Hondarribia, unter mir der Blick auf das Santuario, und vor mir eine weite, grüne Ebene voller kleiner Felsen und leuchtend gelbem Ginster – und darunter das blaue Meer, soweit das Auge reicht. Ich bin schon wieder high.

Während ich in ganz leichtem Auf und Ab durch ein Gänseblümchenmeer über einen Boden wie ein Wasserbett federe, ziehen langsam von hinter mir die ersten dickeren Wolken auf. Ich bin überglücklich, nach den kalten und grauen ersten Eindrücken heute ein paar Momente von strahlendem Sonnenschein genossen zu haben. Das Laufen fühlt sich beschwingt und gleichzeitig irgendwie erdend an. Bis auf ein paar wandernde Franzosen in Gegenrichtung ist es hier oben paradiesisch ruhig.

Mit Blick auf eine friedlich grasende Pferdeschar mache ich eine lange Pause an den Sendemasten gegen Ende des Berges. Die Pferde faszinieren mich. Kein Vergleich zu den knochigen, nassen Minipferden vom Morgen, die regungslos in ihrem tiefen Matsch standen. Dieses zarte Rupf-Rupf im Sonnenschein mit Blick aufs blaue Meer hat etwas durch und durch meditatives.

Anschließend beginnt der Abstieg durch mediterranen Nadelwald und durch weitere Pferdekoppeln hindurch. So ohne Zaun ist es fast ein bisschen respekteinflößend. Gut 15 Pferde mit Fohlen stehen mitten auf dem Weg, und ich quetsche mich etwas ängstlich am äußersten Zaun entlang, um nur ja nicht irgendwie bedrohlich zu erscheinen. Irgendwann bin ich dann für meinen aktuell nicht existenten Trainingszustand recht erschöpft und froh, als das erste Dörfchen und das Meer vor mir auftauchen. Ein Weitergehen schließe ich für heute erwartungsgemäß aus und folge stattdessen den Pfeilen zur Herberge. Diese liegt in wunderbarer Lage am äußersten Ende einer kleinen Anhöhe, mit Blick auf den Hafen und den Meeresarm hinaus aufs Meer. Es hat sogar einen kleinen Leuchtturm davor, der gerade von zwei Männern repariert wird.

Die Herberge sieht von außen ungleich schicker und idyllischer aus als das gestrige Werk, allerdings mit dem kleinen Wermutstropfen, dass sie erst um 16.00 öffnet und es noch nicht einmal 14.00 ist. Ich mache es mir bequem, esse noch ein paar Reste und massiere meine Füße. Dann wird mir das kühle Windchen zu ungemütlich, und ich umrunde die Herberge samt Kirche auf der Suche nach einem windgeschützteren Platz. Die einladenden Bänke sind leider alles andere als windgeschützt. So lande ich nachher auf dem Boden neben einem Rosenbeet, wo ich meinen Schlafsack schon mal als wärmende Unterlage ausbreite. Es ist leider wieder sehr kühl, und meine sehnsuchtsvollen Fantasien ranken sich von Minute zu Minute immer mehr um eine heiße Dusche.

Aus meinem Schlaf schrecken mich dann irgendwann die Schritte eines weiteren Pilgers. Der augenscheinliche Spanier antwortet auf meine Frage, woher er kommt „Alemania“, was mir erst einmal ein schlaftrunkenes „was? Du doch nicht“ entlockt. Er lacht und meint, er wäre immerhin zur Hälfte Lateinamerikaner. Auf alle Fälle ist er sehr lustig und unterhaltsam, und wir kriegen die letzte Stunde Wartezeit wie im Fluge mit Beruferaten und seinen Caminoerlebnissen herum.

Um 16.00 schaut ein irritierter Hospitalero vor die Tür, ob wir denn schon länger warten und warum er unser Klopfen nicht gehört hätte, er wäre doch schon die ganze Zeit in der Herberge. Selbst wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich doch wohl kaum getraut, vor offizieller Öffnung zu stören.

Die Herberge ist klein und beeindruckend schön. Außer einem großen, hohen Raum mit Tisch hat es zwei Schlafebenen mit jeweils 4 Stockbetten. Überall ist dunkles Holz und viele Holzbalken, und für unsere chaotischen Rucksackinhalte hat es sogar Metallkörbe für unters Bett. Im Untergeschoss hat es wunderbare Duschen, sodass ich mich erstmal schön durchrösten lasse. Ein wenig Sorge bereitet mir allerdings schon wieder mein Bett, welches an einer grobsteinigen Außenwand steht. Das klingt wieder nach Frieren.

Mittlerweile ist auch eine Schweizerin eingetroffen, ebenfalls in unserem Alter. Sie scheint recht zäh zu sein. Eigentlich ist sie gerade erst mit dem Nachtzug in Hendaye angekommen und wollte nur bis Hondarribia, hat sich dann aber einfach so nach Laufen gefühlt, dass sie „noch kurz“ den Berg drangehängt hat. Sie hat ebenfalls einige Monate in Lateinamerika verbracht, spricht also auch weitgehend fließend Spanisch. Ich falle in unserer Runde daher ziemlich aus dem Rahmen. Nachdem ich dem Hospitalero erzähle, dass ich in 2 Wochen einen Rückflug ab Bilbao habe, erläutert er mir eine Viertelstunde jede einzelne Etappe bis dahin und wie ich möglichst gut Zeit schinden kann. Meine kläglichen spanischen Versuche, ihn zu bremsen und zu erklären, dass der Flug zwar ab Bilbao geht, aber ich ja schon weiter kommen will, scheitern leider an meinen doch sehr rudimentären Spanischkenntnissen.

Ich mache mich auf ins Städtchen und auf Supermarktsuche. Gerade kommt wieder etwas Sonne heraus, und es reizt mich ungemein, vorne bis ans Meer zu gehen. Auf halber Strecke kehre ich dann aber doch um. Meine Beine fühlen sich nicht mehr so ganz taufrisch an, und vielleicht sollte ich ihnen nun wirklich für heute Ruhe gönnen, statt schon wieder, kaum geduscht, mit Hummeln im Hintern überall rumzurennen.

Der Laden ist exakt doppelt so teuer wie meine morgige Alimentación, was mir ein bisschen die Shoppinglaune verdirbt. Ich belasse es daher bei Wasser und einem Thunfischdöschen für den Abend. In der Abendsonne der Herberge plaudere ich ein bisschen mit der Schweizerin und dem später dazukommenden Deutschen. Die gemeinsame Wellenlänge vom Nachmittag ist mit einem Mal nicht mehr da. Vielleicht findet er mich komisch, weil ich nicht wie ein normaler Mensch gemütlich in einer Bar etwas essen und trinken gehe, sondern immer nur zu Supermärkten renne, oder die weitaus ruhigere Schweizerin trifft eher seinen Nerv. Ich fühle mich vergleichsweise etwas kindisch, unruhig und hibbelig, was sich noch verstärkt, wenn wir Spanisch reden. Außer zwei Pilgern mit gepflegter Ausdrucksweise fuchtelt jemand wild mit Händen und Füssen, um fehlende Worte zu substituieren oder Vergangenheits- und Zukunftsformen zu verdeutlichen. Eine kleine Katastrophe bin ich wohl schon. Vorher im Supermarkt habe ich vermutlich mal wieder gefragt, ob ich ein Brot hatte.

Auf den späten Abend treffen noch zwei Radpilger ein. Wie es sich für einen erschöpften Pilger gehört, liegen wir noch vor 21.00 im Bett. Ich häufe vorsorglich Regenjacke und Trekkinghosen über den Schlafsack und fühle mich weitgehend wohl. Der Tag war toll, die sonnigen Phasen machen Hoffnung. Das schnuckelige Örtchen und die heimelige Herberge sowie der Duft des Meeres, die Fischerboote und Möwen zaubern eine wunderbare Urlaubsstimmung.

Mein nunmehr achter Abstecher auf einen spanischen Jakobsweg kommt mal wieder ganz unverhofft und intuitiv. Als mir mein Bruder zu Weihnachten den Rothen Reiseführer vom Camino del Norte schenkt und meint, vielleicht wäre das doch etwas für mich, ist mein erster Gedanke „oh, wie schade. Dabei werde ich diesen Weg doch sicher nicht gehen“. Zu touristisch, zu wenig Pilger, zu wenig Pilgergefühl… aber zwei, drei Blicke in den nächsten Tagen genügen, um mir die fixe Idee des Camino del Norte in den Kopf zu setzen. In dem bekannten Führer mit den bekannten Streckenprofilen und Herbergsbeurteilungen sieht das alles plötzlich nicht mehr fremd und anders aus, sondern vertraut (und sehnsuchtsweckend) wie eh und je.

Auch liegt dieser Weg ganz paradiesisch in Sachen Erreichbarkeit. Von Bilbao fährt im Stundentakt ein Bus nach Irun, und wenn ich mich grob an den Etappen meines Führers orientiere, bin ich nach 14 Tagen in Llanes, von wo auch mehrmals täglich ein Bus nach Bilbao zurückfährt. Und wenn ich nicht bis Llanes komme, hält der Bus beruhigenderweise auch 1-2 Etappen vorher alle paar Orte. Da kann man es doch so richtig entspannt auf sich zukommen lassen, und vielleicht klappt es endlich mit dem Traum vom Camino ohne Etappenplanung, Stress und Sorge.

Ein paar Wochen vorher checke ich sicherheitshalber nochmal die Rückfahrt und stelle fest, dass nur ein einziger Bus frühmorgens in Frage kommt. Ich kontrolliere die Sitzplatzverfügbarkeit – und bekomme fast einen Herzstillstand angesichts der durchweg roten Sitze – bis auf einen einzigen Platz alles ausgebucht. Ich rette hektisch panisch tippend wenigstens noch diesen für mich. Mein Bruder erklärt wissend, dass es schließlich Semana Santa ist, da wollen wohl viele Spanier verreisen.

Zwei Tage vorher rufe ich mir nochmal die Zwischenhalte in Erinnerung und stelle mir plötzlich die Frage, ob ich da überhaupt problemlos auch schon früher einsteigen kann. Eigentlich kein Problem, ich habe ja ab Llanes bezahlt, aber um sicherzugehen, frage ich nochmal per Mail bei Alsa nach. Selbstverständlich, das geht nicht, mit ganz herzlichen besten Grüßen, Jesús. Ich denke, ich habe mich verlesen oder etwas falsch verstanden, aber der gute Jesús beharrt drauf, das Sitzchen bleibt zwar leer, aber man weiß ja nicht, ob überhaupt jemand aussteigt und was weiß ich was, also geht mal ganz sicher nicht. Ich kriege einen halben Nervenzusammenbruch. Sicherheitshalber noch weitere Tickets von früheren Orten aufkaufen geht auch nicht mehr, der Bus ist ja ausgebucht. Auch meine Idee, die Liste der Busse von Bilbao nach Irun auszudrucken, bringt unschöne Überraschungen. Von stündlichen Abständen ist nichts mehr zu sehen, bzw. zumindest klafft eine nette fast 4-stündige Lücke zwischen 14 und 18.00. Nachdem ich um 13.30 am Flughafen in Bilbao ankomme, reicht es nicht mehr auf 14.00 und geht für mich also erst kurz vor 18.00 weiter. Fast schon mit böser Vorahnung werfe ich einen Blick auf die Sitzplatzreservierungen. Wieder ist fast alles ausgebucht, ich ergattere schon wieder recht panisch einen der letzten Plätze. Das fängt ja gut an.

Dafür liest sich die 14-Tage-Vorhersage für Bilbao und Santander sehr einheitlich – außer grauen Wolken für die ersten beiden Tage kündigt die Prognose für jeden weiteren Tag eine gelbe Sonne vor blauem Himmel an, bei 24-26°C. Ich bin recht ungläubig, noch nichtmal ein kleines, weißes Teilwölkchen zu erspähen. Und spähe umso misstrauischer auf meinen großen Haufen Gepäck, der erstmals neben Regenjacke, Regenhose und Rucksackhülle auch einen Regenschirm beherbergt.

Mein sonntäglicher Anreisetag beginnt kurz nach 6 per Zug, ab 9 geht mein erster Flug von Zürich nach Düsseldorf. Mittlerweile bin ich flugroutiniert, handgepäckerprobt und routiniert im Rucksack-in-Müllsack-Eintüten. Die Waage zeigt 8 kg, ich bin zufrieden.

Etwas bang wird mir, als beim Einsteigen ein Herr des Bodenpersonals die Dame am Schalter nachträglich belehrt, dass sie doch nicht die Trolleys ins Handgepäck lassen könnte, dazu wäre dieser Flugzeugtyp doch wirklich zu klein. Mein kleines Baumwolltütchen darf zum Glück hinein, und meine Vorahnung einer superengen Nussschale löst sich auch in Wohlgefallen auf. Nach vielen spanischen Airlines fliege ich endlich mal wieder Lufthansa, traumhaft. Auf meinem bequemen Sitz verschlafe ich gleich den Start, meine Snack-Sicherung in Form meines auf den Gang gestreckten Wanderschuhs alarmiert mich aber gerade noch rechtzeitig, um „Orangensaft“ zu sagen. Nicht nur „möchten Sie sonst noch etwas trinken?“, sondern auch noch eine riesige Müslistange folgen. Doppelt traumhaft.

In Düsseldorf liegt der Weiterflugschalter nur ein paar Meter entfernt, sehr entspannt. Weniger entspannt ist das Flughafenpersonal, nachdem es aus der Zwischendecke bergquellähnlich wässert. Beim Einsteigen begrüßt mich die bekannte Crew, da hätte ich ja gleich sitzen bleiben können. Einen weiteren Fußrempler und Orangensaft später kaue ich überglücklich ein unglaublich leckeres Avocadobrötchen – und schwanke minutenlang, ob meine Lust auf ein zweites Brötchen ein unverschämtes Betteln legitimieren würde. Glücklicherweise siegt die Höflichkeit.

Wir landen pünktlich in Bilbao, und während ich noch kurz das WC aufsuche, landet mein Rucksack schon einen Raum weiter bei den nicht abgeholten Gepäckstücken, den mir eine freundliche Mitarbeiterin im ansonsten bereits menschenleeren Flughafen noch aufschließt. Ich bin halb high, wie gut alles klappt.

Der Bus zum Busterminal spuckt mich dort kurz nach 14.00 aus. Die Wartezeit entpuppt sich als etwas ärgerlich, nachdem auf der Anzeigetafel jede zweite Zeile „San Sebastian“ lautet und dort ständig ein Bus hinfährt. Ich ringe wieder mit mir, ob ich nicht einfach Irun sein lassen soll und eine Etappe später in San Sebastian beginnen soll – zumal mir der Berg bei der gleich ersten Etappe etwas Sorgen bereitet, so untrainiert wie ich mal wieder bin. Ich bin hin und hergerissen zwischen allzu vielen Gedanken um Vernunft und Bequemlichkeit und Prinzipien und Intuitionen, vor allem aber ist es zermürbend kalt. Ich trage schon mein „worst case equipment“, beide Fleecepullis und die Regenjacke, und trotzdem ist mir total kalt in dem zugigen Busbahnhof. Mein Rücken wird kalt, und meine Motivation und Zuversicht schwinden kläglich. Wenn ich jetzt schon so friere, wie soll ich da erst einen Frühlingssturm im strömenden Regen an einer Steilküste überstehen.

Gegenüber von mir sitzen drei Pilger, die sich routiniert und ach-so-pilgerisch austauschen. Mir ist absolut nicht nach „ach, hallo, ich bin auch Pilger“. Ich versuche lieber möglichst inkognito dazusitzen – in klobigen Wanderschuhen mit einem deutschen Riesenrucksack auch sicher ein sehr gelungenes Bild.

Ich habe gerade mal die erste Stunde herum, als ich beschließe, mir ein wenig die Füße zu vertreten. Die Bewegung und der warme Rucksack am Rücken tun schon mal gut. Ich trapse etwas ziellos in die Richtung, in der ich in einem Vorjahr schon mal einen Supermarkt gefunden habe (der heute natürlich sonntäglich geschlossen hat). Während ich noch etwas unentschlossen überlege, wie ich die größere Straße überqueren soll, fällt mein Blick auf eine Kachel am Boden – eine Jakobswegkachel. Irgendwie kommen mir fast die Tränen, in dem Moment hat es so etwas beruhigendes, beschwichtigendes. Und während ich mit geschultem Schnitzeljagdblick die Gegend nach gelben Pfeilen absuche, wird mir bewusst, dass ich bereits auf caminolichem Boden stehe. So ein Zufall. Ich laufe spaßeshalber eine halbe Stunde den Pfeilen nach, die ich in einer Woche dann offiziell entlanglaufen werde. Dann wird es mir aber wirklich zu kalt, ich teste sogar schon die Tür einer Bank und stelle frohlockend fest, dass der Raum zum Geldautomaten offen ist. Eine verführerische Aufwärmmöglichkeit, allerdings siegt auch hier wieder mein gutes Benehmen bzw. die Angst, was der Herr am anderen Ende der Überwachungskamera von mir denken könnte.

Zurück am Busbahnhof streife ich minutenlang unentschlossen um den einzig warmen Raum einer Cafeteria. Ich kaufe ein Apfelküchlein (mit der Betonung auf „zum hier essen“), bin aber nach ein paar Minuten schon wieder fertig mit Essen und schuldbewusst, jetzt doch nicht noch ewig hier abhängen zu können. Da hilft es auch nicht sehr viel, dass jeder andere das genauso tut und seelenruhig ein Buch liest. Barerprobt bin ich einfach noch nicht. Spätestens, als zwei ältere Damen suchend nach einem Hocker schauen, springe ich ihnen freundlich zu Hilfe. Schließlich bin ich Pilger.

Die letzte halbe Stunde bekomme ich gut rum und bin sehr erleichtert, endlich im richtigen (und warmen) Bus zu sitzen. Auf dem kleinen Fernseher läuft (zum Glück tonlos) irgendein grausiger Film. Ich gebe mir Mühe, die Augen zuzumachen, aber trotzdem schaue ich immer wieder zielsicher in irgendwelche schmerz- und horrorverzerrten Gesichter. Ich werde halb aggressiv, warum man an einem schönen Spätnachmittag so einen Mist zeigen muss, bzw. zu meinem heimeligen meditativen Wohlgefühl trägt es nicht gerade bei. Die Spanier um mich herum, die den Film gebannt verfolgen, sehen mir gleich auch etwas suspekt und bedrohlich aus.

So bin ich ziemlich zusammengefaltet, als ich kurz vor Sonnenuntergang in Irun ausgeladen werde. In einer riesigen Stadt, durch die der Bus minutenlang fährt. Vor meinem nichtplanenden Camino-Auge hatte ich mir ein 100-Seelen-Dorf vorgestellt, wo ich schon von weitem die Albergue sehe – bzw. wo freundlich winkende Leute mir auf der Straße schon den Weg entgegenwedeln. Ich fühle mich reichlich idiotisch, so ganz ohne Plan in der beginnenden Dunkelheit. Vermutlich weiß in dieser Ecke nicht einmal jemand, dass Irun einen Camino geschweige denn eine Herberge hat. Etwas jämmerlich konsultiere ich meinen kärglichen Führer, der immerhin etwas von „400m vom Bahnhof“ indiziert. Somit muss ich ja nur noch den Bahnhof finden. Fantastischerweise sieht das Gebäude neben mir nicht nur verdächtig nach Bahnhof aus, sondern ist es auch. Bei beginnendem Regen sehe ich sogar einen gelben Pfeil und könnte heulen vor Erleichterung. Trotzdem verlaufe ich mich nochmal schick und konsultiere wieder halb Irun, stehe dann aber wirklich vor einem endlosen Reihenhaus mit einem „Albergue 1. Stock“ an der Tür.

Ich trapse etwas befremdet ein Treppenhaus hoch, so ganz geheuert ist mir eine Herberge so einfach mitten in der Stadt nicht. Die Tür im ersten Stock ist verschlossen. Glücklicherweise probiere ich einfach die Klingel, woraufhin mir ein kleines Männchen mit Mantel und Hut öffnet und mich sehr selbstverständlich hereinwinkt. Ich bin ziemlich durcheinander, aber erleichtert. Der Hospitalero scheint über 80 und von der eher schweigsamen Sorte zu sein. Er zeigt mir ein noch leeres, dunkles Zimmer mit recht einfachen Metallstockbetten, nachdem das eine Zimmer schon belegt ist und ein „auch Schweizer“ in dem anderen logiert. Er sieht auch wirklich recht wild aus, sodass ich ganz froh bin über die Idee des Mannes, mich da nicht dazuzustecken.

Ich fühle mich reichlich verloren in der sehr alten, sehr kühlen Herberge. Die Klospülung funktioniert über einen Seilzug, an dem ich schier verzweifle und wieder schwanke, ob es einfach so viel Kraft braucht oder ob ich im nächsten Moment den ganzen Spülkasten herunterreiße. In der Küche, in der ich mir zur Erwärmung ein Glas lecker chloriertes Wasser in der Mikrowelle warmmache, sitzt ein junger Däne. Er ist irgendwie komisch hibbelig hyperaktiv, schaut immer wieder hektisch in seinen Science Fiction Roman, und ich bin nicht so ganz sicher, ob er einfach schüchtern ist oder seine Ruhe haben will. Die Schwester dazu ist schon mal nicht hibbelig, sondern vom Auftreten ein ziemliches Trumm. Ohne mich anzuschauen, donnert sie ein „Hallo“, um dann auf Dänisch wild mit ihrem Bruder zu diskutieren. Eins haben sie zumindest mit mir gemeinsam, sie sind ähnlich gut vorbereitet. Sie sind schon den Tag in Irun, und es wäre eine Scheißstadt, in der es nur Burger gäbe. Ob das Meer denn nicht schön gewesen wäre? Der Däne guckt mich verstört flackernd an. Irun würde doch nicht am Meer liegen, oder? Und sie machen den Camino del Norte, weil der Camino schön sein soll und der Hauptweg „im Süden“ dann wahrscheinlich schon zu heiß um diese Jahreszeit.

Noch nicht bedeutend wohliger schaue ich mich im Empfangsraum um (unter den wortlosen kritischen Blicken des warm verpackten Hospitaleros). Es hat alle möglichen Karten und Herbergslisten. Ich frage sicherheitshalber, ob meine geplante Herberge in Pasai Donibane morgen wirklich geöffnet hat. Ja, ja, aber wieso ich denn dort hinwolle. Morgen wäre die Etappe doch eher San Sebastián. Das ist mir zu weit, macht mir doch der Berg allein schon Sorgen. Welcher Berg denn? Er zeigt mir ein Höhenprofil ganz ohne Berg. Ich hole eifrig meinen Führer und zeige den stattlichen Buckel in meinem Führer, Jaizkibel 545m. Na ja, ja, das könnte man theoretisch gehen, aber da gibt es eine Forststraße unterhalb entlang, man geht doch nicht über den Grat. Das wäre etwas für Alpinisten. Ich bin etwas irritiert. Ob der Weg denn gefährlich wäre? Nein, gefährlich nicht, aber warum soll man denn hoch und runter gehen, wenn es doch auch schön eben geht. Ich bin verunsichert und beschließe für heute, einfach mal wieder mein Heil im Schlafen zu suchen. Vielleicht braucht es einfach wieder ein kleines Weilchen, bis ich in die Peregrina hineinwachse.

Ich bin zurück von zwei beeindruckenden Wochen entlang der Küste von Irun nach Llanes.

Einige optische Eindrücke vorab, Vertextung folgt…

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Bevor ich meinen Herbstcamino auch in getippter Form endlich zu einem Ende bringe, geht es für mich in den nächsten Tagen auf ein weiteres Camino-Abenteuer, diesmal auf den Camino del Norte. Ich bin gespannt, was Wetter, Pilgeraufkommen, Herbergen, Etappenlängen und das kleine Quentchen *Schwer-in-Worte-zu-fassen* diesmal für mich bereithalten.

Wer auch gespannt ist, ist hier ab in einigen Wochen zum Lesen herzlich eingeladen, :-)!

Die Nacht ist erwartungsgemäß wenig erholsam. Irgendwie ist es zu warm, sodass ich zwischenzeitlich meine Füße aus dem Schlafsack strecken muss. Die Spanier sind in Feierstimmung und erst weit nach Mitternacht etwas ruhiger. Und ich schaue alle halbe Stunde panisch auf mein Handy, ob ich nicht vielleicht doch verschlafen habe.

Mein Wecker klingelt kurz nach 4, zu einer völlig gestörten Zeit. Ich schleppe alles unten in den Essensraum und packe, um mich um 4.30 auf den Weg zu machen. Ich fühle mich in der Herberge wie der letzte Alien, und um diese Zeit loslaufen ist natürlich auch wieder gegen mein Wohlgefühl und nicht unbedingt beruhigend. Während ich nachts alle halbe Stunde geschaut habe, ob ich schon aufstehen muss, schaue ich nun alle halbe Stunde auf mein Handy, um zu überprüfen, wie ich in der Zeit liege und ob alles hinkommt. Laut Führer habe ich 5 1/4 Stunde vor mir, ich will noch einen kleinen Abstecher zu den Statuen auf dem Monte de Gozo machen und muss in Santiago vor der Messe um 12 meine Compostela abholen und einige Einkäufe machen. Mir brummt der Kopf, ich bin in Gedanken bereits die Straßen von Santiago ablaufen und überhaupt nicht mehr im hier und jetzt. Was aber auch nicht weiter schlimm ist, zum einen ist es eh noch dunkel, zum anderen ist die letzte Etappe entlang der Rundfunkanstalten auch nicht so furchtbar malerisch.

So gestresst, wie ich durch die Gegend presche, liege ich natürlich super in der Zeit. Die morgendliche Dunkelheit wird heute leider abgelöst von einer ziemlich grauen Nebelsuppe, die pünktlich zum Monte de Gozo auch noch in einen leichten Nieselregen mündet. So ist auch dieser Moment dann wieder völlig anders und neu, von Freude keine Spur. Die Denkmäler wirken im Regen recht trostlos, weit und breit keine anderen Pilger, und mir fehlt natürlich auch die Ruhe und innere Einstellung, um mich davon so richtig berühren oder bewegen zu lassen.

Santiago ist noch regnerisch verschlafen, der sonst so touristisch bevölkerte Kathedralenplatz ist leer. In einer Ecke wird die Bühne vom gestrigen Papstbesuch abgebaut, eine komische Stimmung. Auf meinem Weg zum Pilgerbüro laufe ich plötzlich in den strahlenden Blondschopf Markus 1 hinein, den ich eigentlich nur einmal bisher in Ruitelán gesehen habe. Er ist schon seit 2 Tagen da, ist bis Santiago mit dem anderen Markus gelaufen und hat gestern nun so richtig den Papstbesuch genossen. Sie haben ab dem frühen Morgen auf dem Platz ausgeharrt, 8 Stunden, um dann auch ja einen guten Blick zu haben. Und er wäre dann so nah am Papst dran gewesen, ein Erlebnis für die Ewigkeit. Markus sieht eigentlich so aus, als würde er eher in schicki-micki-Clubs abhängen und sich höchstens über eine Beförderung in die Chefetage oder einen neuen Porsche freuen. Umso sympathischer ist mir sein grenzenloser Enthusiasmus über das gestrige Erlebnis. Markus 2 ist bereits nach Finisterre aufgebrochen. Schade, ich hätte ihn sehr gern nochmal gesehen. Gleichzeitig bin ich aber auch seltsam ergriffen und berührt. Plötzlich ist mir unser Gespräch beim O Cebreiro wieder lebhaft vor Augen, von seiner Verzweiflung – oder doch schon eher Entschlossenheit -, diesmal etwas fertig bringen zu wollen, diesmal den Camino zu beenden und in Finisterre sein altes Leben hinter sich zu lassen. Ich habe nie dran gezweifelt, aber es war irgendwie noch Zukunftsmusik. Und nun ist er 2 Tage vor seinem Ziel, ich kann fast erspüren, welche Gefühlsregungen sich nun in ihm abspielen müssen.

Die Begegnung mit Markus tut unheimlich gut, er ist so strahlend verwandelt und strahlt so viel Glück und Freude aus. Trotzdem rattert mir mein Zeitplan im Kopf herum, und ich verabschiede mich erstmal zum Compostela-Holen. Anschließend trage ich mich mit dem Gedanken, die heilige Pforte zu durchqueren. Nachdem ich schon den Papst verpasst habe, wäre das eine weitere Gelegenheit, etwas zu erleben, was es so schnell nicht wieder gibt. Aber die Schlange ist mehrere hundert Meter lang. Wenn ich  mich dafür entscheide, verpasse ich wohl die Messe. Ich beschließe, dass es solche „Formalitäten“ nicht braucht, um sich als Pilger zu fühlen.

Wegen dem heiligen Jahr gibt es diesmal strengere Sicherheitskontrollen. Man darf die Kathedrale nicht mit Tasche oder Rucksack betreten, sodass ich mein Monstrum an einer Gepäckverwahrung abgebe. Ein komisches Gefühl, meine Messe ohne meinen Rucksack.

Ich stürze mich in die Souvenirläden, ich brauche einen Rosenkranz für einen krebskranken Bekannten und möchte das Kartenset kaufen, das es auf dem Camino in jeder zweiten Herberge gab. Mit Bildern vom Camino und vom Pilgern und darunter vielen weisen Sprüchen und Lebensweisheiten, die mich teilweise sehr berührt haben. Das mit dem Rosenkranz ist schon unheimlich schwierig, ich habe sehr klare Vorstellungen, Rosenholz mit Rosenduft, so wie ich selber einen habe. Überall gibt es nur Plastik mit Plastikduft, was jetzt irgendwie gar nicht geht. Auch meine Karten finden sich nirgends. Ich bin frustriert und genervt, dass es hier 50 gleichartige Souvenirläden gibt, aber jeder nur den gleichen Scheiß hat. Irgendwo finden sich dann doch die Karten, allerdings auf Deutsch. Ich suche weiter, bis ich sie irgendwo doch noch wie gewünscht auf Spanisch erstehe. Ein weiteres Häkchen auf meiner „Mission Heimkommen“-Checkliste.

Langsam trudeln die ersten Pilger, die in Arca normal losgelaufen sind, ein. Als erstes sehe ich die Grinsekatze, die mich anstrahlt und voller Santiago-Euphorie ist, mich beglückwünscht und jetzt vor allem in Feierlaune ist. Ich ziehe mich mit einem pauschalen „ja, ja“ aus der Affaire. Ich bleibe ja eh nicht für die ausgelassenen Feiern am Abend, und das erfüllt mich im Moment auch nicht mit Reue. Wenig später treffe ich Matthias. Er ist wie üblich nicht ganz so ausgelassen und überschäumend. Eigentlich haben wir verhältnismäßig viel Zeit zusammen verbracht, sind uns eigentlich seit Astorga jeden Tag begegnet. Er weiß, dass ich heute schon fliege, sodass für einen Moment eine komische Abschiedsstimmung zwischen uns steht. Ich sollte nun etwas Herzliches sagen, ihn zum Abschied umarmen oder ihm ein Bändel geben, ich sehe förmlich vor mir, wie souverän und überschäumend Anke das jetzt gestalten würde. Aber ich kriege es nicht hin, wir drucksen ein komisches „Tschüss dann“, und ich bin wieder recht frustriert und niedergeschlagen von meiner sozialen Gesamtleistung.

Ein paar Meter weiter laufe ich in Lucia hinein. Die Kommunikation ist wie üblich etwas erschwert davon, dass sie statt Englisch lieber undefinierbare Grunzlaute von sich gibt. Aber auch sie ist happy, hat den Papstbesuch noch erwischt und sich damit einen riesigen Traum erfüllt. Wenigstens hier schaffe ich es, mich ordentlich zu verabschieden und ihr mein Bändel zu geben. Ähnlich wie nach dem Haargummi ist sie völlig von der Rolle und bricht schier in Tränen aus.

Ich kämpfe mich weiter in Richtung Kathedrale durch, man trifft nun wirklich alle 20 Meter auf eilige, begeisterte Pilger, die den Sprint von Arca gemacht haben, nun noch schnell die Compostela abholen und dann in die Messe wollen. Die letzten Tage hatte ich das Gefühl, niemanden mehr zu kennen, aber nun tauchen doch plötzlich noch alle möglichen Bekannten von entlang des Wegs auf. Typisch für Santiago.

Im Kathedralenshop kann ich ein weiteres Häkchen setzen. Der Rosenkranz ist zwar nicht der, den ich haben wollte, aber immerhin auch aus Rosenholz. Recht erleichtert, so ziemlich alles erledigt zu haben, steht nun nur noch „Spitzenplatz im Seitenschiff Sichern“ auf dem Programm. Ich habe Glück und finde einen Platz direkt am Gang in der zweiten Reihe.

Die Kathedrale ist proppenvoll, vor allem mit Touristen. Die Gänge sind gestopft voll mit laut erklärenden Führern und ihren Schirmchen, ständig wird geknipst und geblitzt, die Geräuschkulisse ist gewaltig – und wenig stimmungsvoll. Oder vielleicht liegt es an mir. Zu viele Häkchen und Abfahrtszeiten im Kopf.

Die Messe berührt mich wenig, diesmal bin ich ja ohnehin nicht so gut darin, Gott in Kirchen zu begegnen. Als der Botafumeiro geschwenkt wird, versuche ich von meinem tollen Platz aus, ein gutes Foto zu schießen bzw. versuche sogar ein Video. Ernüchtert stelle ich später fest, dass ich zum einen kein scharfes Foto erhalten habe, erst recht nicht die Stimmung darauf festhalten konnte und jegliche Stimmung eigentlich dadurch verpasst habe, dass ich die ganze Zeit wie wild an irgendwelchen Knöpfen gedreht habe und den kleinen Monitor im Blick hatte.

Draußen hat sich mittlerweile doch ein bisschen die Sonne durchgesetzt. Ich habe noch etwa eine Stunde, bevor ich zum Busbahnhof muss, so versuche ich, noch ein bisschen die Stimmung zu genießen. Plötzlich steht Joaquin vor mir, ich brauche ewig, bevor ich es kapiere. Er wollte doch eigentlich heute früh mit seiner Mutter nach Portugal abfahren, deswegen habe ich ihn überhaupt nicht mehr auf meiner Liste der hier zu erwartenden Gesichter. Er fliegt mir begeistert um den Hals und drückt mich eine halbe Ewigkeit, was mich etwas perplex macht. Da ruft auch schon ein Rudel kleiner Spanier seinen Namen, als wäre er ein Promi. Nun ist er etwas perplex, er scheint sie nicht wiederzuerkennen. Doch, doch, er wäre doch der mit der Glatze. Sie haben mit Anke übernachtet, und sie hat ihnen das Video von seinem Friseurbesuch vorgespielt. Vorauseilende Prominenz. Joaquin begrüßt seine neuen Fans gewohnt offen und herzlich und stellt mich auch gleich mal als eine liebgewonnene Freundin vor, die ihn die letzte Zeit auf dem Camino begleitet hat und wo er jetzt so von der Rolle ist, mich nochmal zu sehen.

Kurz darauf gesellt sich eine kleine Frau zu uns, die sich als seine Mutter herausstellt. Ich werde wieder ähnlich blumig und überschwänglich vorgestellt, bin aber einfach sehr neben der Kappe. Hier geht mir gerade alles etwas zu schnell bzw. ich bin nicht in meinem üblichen, sortierten, langsamen Peregrina-Frieden. Joaquins Mutter ist auch so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hätte. Sie ist überaus normal und höflich und unauffällig, ich hätte mir eigentlich ein paar Alfalfa-Tabletten oder zumindest eine Hippie-Frisur vorgestellt. Beide fragen mich begeistert, ob ich nicht noch den Nachmittag mit ihnen verbringen will, sie wollen gerade in eine Ausstellung im Parador. Ich bin froh, dass ich so oder so verneinen muss. Ich werde mit einer weiteren langen Umarmung wehmütig entlassen, gehe meinen Rucksack abholen, setze einen weiteren Haken unter „Santiago-Torte-Kaufen“ und mache mich dann doch sehr wehmütig auf in Richtung Busbahnhof. Ich kehre der Kathedrale nur ungern den Rücken, und auch diesen vielen Menschen, mit denen ich die letzte Woche verbracht habe. Ich treffe noch die Kanadierin von Villafranca del Bierzo, es ist unglaublich, wie viele Begegnungen ich eigentlich schon vergessen hatte und nun wiedererkenne. Ich kann mich auch eines Gefühls vieler verpasster Chancen nicht erwehren.

Am Busbahnhof überkommt mich eine große Melancholie. Die Begegnung mit Joaquin hat mich sehr aus der Bahn geworfen. Den ganzen Camino über hatte ich das Gefühl, ihm ziemlich auf den Geist zu gehen, Anke und er waren weniger Freunde für mich, als vor allem Denkanstöße, die mich immer wieder über mich selbst nachdenken haben lassen. Mir kommt eine Strophe aus „Weit wie das Meer“ in den Sinn:

***

Und doch sind Mauern zwischen uns und andern, wir sehn einander nur durch Gitter an.

Unser Gefängnis ist das eigne Wesen und seine Mauern nichts als unsre Angst.

***

Meine Flüge klappen reibungslos, um 19 Uhr bin ich in Madrid, um 22 Uhr in Zürich, kurz nach Mitternacht zu Hause. Ich bin ziemlich erschlagen, zum einen von den vielen Eindrücken und Lehren, die ich erstmal verarbeiten und verinnerlichen muss, zum anderen von diesem übervollen Tag. Am Morgen noch zu Pilgern und abends schon wieder zu Hause zu sein, das ist ein ziemlich abruptes Ende für eine entschleunigte Pilgerreise.

Irgendwie entschleunigt bin ich aber trotz allem irgendwie, und hinter einem Haufen wirrer Gedanken und viel Material macht sich eine solide Gelassenheit breit.