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Posts Tagged ‘Santiponce’

Gegen 6 Uhr wache ich auf und kann nicht mehr einschlafen. Aufstehen kommt so früh noch nicht in Frage, aber solange der Rest des Hostals schläft, kann ich ja in Ruhe Duschen und Haarewaschen. Und mich dann nochmal 2 Stunden hinlegen und die Haarpracht trocknen lassen.

Im T-Shirt und mit Waschbeutel tapse ich in die Duschräume. 10 Minuten später tapse ich zurück und drehe an meinem Türknauf, ohne dass sich etwas tut. Schlagartig dämmert mir, dass wir hier ja nicht in einer normalen Herberge sind, sondern in einem Hostal, und hier die Türen automatisch zu sind, sobald man sie vom Gang ins Schloss zieht. Und mein Schlüssel lagert fröhlich innen auf dem Nachttisch. Ich kriege einen Riesenschreck; soll ich jetzt hier 2 Stunden im T-Shirt auf dem Gang bibbern, bis sich der spanische Rezeptionist aus dem Bett schält? Ich gehe zur Rezeption und sehe ihn gerade noch das Haus verlassen. Er versteht wohl nur die Hälfte meiner panischen Schilderung, schließt mir aber zumindest wieder auf. So ein Glück, dass ich es hier mit einem Frühaufsteher zu tun habe.

Um 8 dringt schon wieder das aufdringliche englische Geschnattere durch meine Ohrstöpsel. Ich packe meinen Sachen zusammen und beginne meinen Camino. Ein mehr fremdes als erhabenes Gefühl.

Mein erster Blick auf das Tageslicht verheißt nichts Gutes. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, erstmal noch ausführlich Sevilla anzuschauen, zumal die heutige Etappe nicht sehr lang ist. Allerdings ist heute der Himmel grau, es sieht fast nach Regen aus, und das geschäftige Treiben auf den Straßen erinnert schlicht an morgendlichen Berufsverkehr, und nicht an die spezielle gestrige Stimmung. Ich beschließe spontan, nur noch einen Supermarkt zu suchen und dann loszugehen. Nach ein paar Metern in die Gegenrichtung (in der es nicht nach Supermarkt aussieht) gehe ich doch wieder durch den Park Richtung Kathedrale. Ab dort soll die Via de la Plata beginnen. Ich gucke mehr in meinen Führer als auf die Stadt. Normalerweise folge ich den gelben Pfeilen und konsultiere den Führer maximal abends, um die folgende Etappe zu planen, mich auf eine Einkaufsmöglichkeit und eine gut bewertete Herberge zu freuen. An jeder Straßenecke stehe ich hilflos, suche Straßennamen im Führer und an den Hauswänden, versuche, rechts und links Straßen zu deuten. Gelbe Pfeile oder Muscheln hat es wenig, ich verlaufe mich an jeder Straßenecke, habe bald sicher 20 Einheimische befragt und finde es ziemlich mühsam. Mittlerweile tröpfelt es auch, ich packe meine Rucksackhülle und die Regenjacke aus.

Vor mir kommt plötzlich eine Gruppe spanischer Pilger aus einer Gasse gesprungen. Alle sind klein, haben ebenso kleine Rucksäcke, riesige Pilgerstäbe, schnattern laut und fröhlich und sind vor allem superschnell. Und mindestens zu siebt. Mir rutscht irgendwie das Herz in die Hose. Ich hadere hier mit meinem großen Rucksack und meinen klobigen Stiefeln und schleppe mich suchend durch die Gegend. Und der Camino ist wahrscheinlich schon überflutet mit 200 schnellen Pilgern vor mir.

Leider ist das Grüppchen auch genauso schnell wieder weg, wie es gekommen ist. Und ich stehe wieder suchend an jeder Hausecke. Nach einer Brücke kommt immerhin eine Markthalle, wo ich ein Brot und ein Schokocroissant erwerbe. Wenigstens verhungern werde ich also nicht. Irgendwann kommt sogar ein Dia-Supermarkt in Sicht, wo ich Chorizo, noch ofenwarmes Brot, Schokomuffins und zwei kleine Wasserflaschen für die Seiten meines Rucksacks einkaufe. Das Problem wäre also gelöst. Langsam wird auch entweder der Weg besser ausgeschildert oder ich ruhiger, es läuft jedenfalls immer besser, je weiter ich aus Sevilla herauskomme. Es geht auf eher einsameres Gelände mit viel Schutt und Müll. Viel vertrauenserweckender wird es auch nicht, als immer mehr Menschen dort auftauchen. Alles Zigeuner, die am Flussufer ihre Zelte aufgeschlagen haben und dort um Lagerfeuer herum sitzen. Wohlgemerkt bei recht ordentlichen Außentemperaturen. Mir ist ziemlich mulmig und ich sehe mich schon ohne Wertsachen in dem dreckigen Fluss treiben. Meine Fantasie am frühen Morgen ist überwältigend.

Ich bin froh, als der Fluss mit den Schutthalden hinter mir liegt und es wieder auf eine Siedlung zugeht. Dort empfangen mich auch gleich die gewohnten gelben Pfeile – und eine mir entgegenkommende, weißhaarige Pilgerin, als solche ersichtlich am Gang und an der Brusttasche mit diversen Pilgermotiven. Als wir uns begegnen, fragt sie „are you going to Santiago?“ und ich bin etwas konsterniert. Dachte ich eigentlich schon, aber nachdem sie das auch tut, bin ich wegen der Richtung etwas irritiert. Sie erklärt, dass sie den Weg nicht mehr findet. Noch sehe ich hier laufend Pfeile und bin daher frohen Mutes. Zusammen laufen wir nochmal in die normale Richtung. Sie sagt, sie wäre diesen Kilometer jetzt schon vier mal hoch und runter gelaufen, irgendwo wäre einfach Schluss mit den Pfeilen und sie käme nicht weiter. Da bin ich ja mal gespannt.

Sie heißt Lieke, ist Holländerin und ein echter Pilgerroutinier. Sie ist schon von zu Hause mit dem Rad nach Santiago gepilgert und in Gegenrichtung zu Fuß bis Pamplona. Gegenrichtung stelle ich mir ungleich schwerer und einsamer vor, aber da lacht sie nur dröhnend. Überhaupt ist sie ein recht sonniges Gemüt.

Irgendwann kommt die Stelle, wo sie sich mit den Pfeilen nicht mehr sicher ist und wo die Einheimischen immer „todo recto“ gesagt hätten. Der Kreisel zu einer befahreneren Straße sieht aber nicht wirklich einladend aus, und ganz ohne Pfeil fühle ich mich da auch nicht besonders angesprochen. So lassen wir die Blicke etwas schweifen und finden wirklich einen gelben Pfeil, der scharf rechts in das Örtchen einbiegt. Lieke ist erleichtert, und ich nicht minder.

Wir laufen zusammen weiter. Obwohl Lieke kleiner (und deutlich älter) ist als ich, hat sie einen ganz schönen Schritt drauf. Die Strecke ist ausgesprochen wenig ansprechend, wie im Führer angedeutet geht es durch Industriegebiet. Neben uns rauscht der Verkehr, ständig müssen wir auf die Straße, weil parkende Autos im Weg stehen, es ist anstrengend und nicht schön.

Als ich irgendwann einen Blick in meinen Führer werfe und sehe, dass wir erst 2 Stunden haben, klappt meine Motivation komplett zusammen. Dieses Gesuche in Sevilla und hier das lange Straßegehen haben mich ziemlich angestrengt und mürbe gemacht. Und das war erst ein Drittel? Wie sollen da nur die nächsten Etappen werden, wenn ich an so einer Einsteigeretappe schon am liebsten jetzt Schicht für heute machen würde?

Als wir endlich Santiponce erreichen und damit angeblich schönere Gefilde, nutze ich die Chance, mich wegen einer Esspause zurückfallen zu lassen. Lieke ist mir für meine momentane Erschöpfung zu schnell, noch dazu ziept mein Bein sehr beunruhigend. Seit dem letztjährigen Muskelfaserriss bin ich nicht mehr länger gelaufen, ich misstraue dem Bein und habe keine Ahnung, wie haltbar und belastbar es nun ist. Meine Füße tun weh, ich fühle mich groggy, lasse mich auf eine Bank plumpsen, ziehe Schuhe aus und esse erstmal ausgiebig. Nahrung für Körper und wahrscheinlich noch mehr für die Seele.

Hinterher läuft es sich wie wundersamerweise viel besser. Vor mir taucht ein weiterer Pilger auf, ein älterer Mann, der sich suchend im Kreis dreht. Bzw. er läuft einfach unheimlich langsam und mühsam und schleppend. Mir ist es fast schon peinlich, so ausgeruht an ihm vorbeizupreschen. Habe ich die Energie ja auch nicht schon immer.

Ich gehe kurz in die offene Kirche in Santiponce und versuche mit Gott in Verbindung zu treten. Mit moderatem Erfolg.

Die Ruinen von Itálica sind heute, montags, fast glücklicherweise geschlossen. Ich bin erleichtert, so automatisch ohne Gewissensbisse einfach daran vorbeilaufen zu können. Sightseeing ganz am Anfang kommt mir irgendwie ungelegen, ich möchte mich erst wieder als Pilger fühlen und beweisen und kann nicht überall einen Fotostop und das Touristenprogramm einlegen.

Weit vor mir läuft Lieke, aber wie es auf dem Camino so ist, schon 100 Meter Abstand sind sehr schwer einzuholen. Darüber bin ich auch ganz froh.

Vor uns taucht die berühmte überschwemmte Senke auf, von der ich im Vorfeld schon gehört habe. Ich sehe Lieke nach links verschwinden, dann nach rechts, um nach einer langen Suche auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Ich schaue mir kurz die trübe Brühe an, Durchwaten schließe ich recht schnell aus. Rechts sollen irgendwo Baumstämme liegen, ich bin stolz auf meine informierten Geheimtipps und laufe unbeirrt in das Gebüsch zur Rechten. Zwei spanische Radpilger stehen ebenfalls etwas ratlos. Baumstämme hat es dort wirklich, aber die versinken auf halber Strecke. An einer anderen Stelle hat es dann wirklich eine recht langen Baumstamm, über den ich mich halsbrecherisch hangele. Auf der anderen Seite warten riesige Brombeerbüsche. Ich bin schon nah dran, mich dornröschenprinzengleich hindurchzuschlagen, glücklicherweise überdenke ich es dann doch nochmal und schlage mich auf der anderen Seite durch zumindest dornenfreies Unterholz. Wild zerzaust komme ich stolz wieder am Weg heraus – wo mich der eine Radpilger ziemlich entgeistert anschaut. Er steht auch schon auf der richtigen Seite, auf einem wasserfreien, meterbreiten Weg, den gerade mal eine dünne Matschschicht bedeckt. Ich habe hier also wohl etwas umsonst den melodramatischen Helden markiert.

Der Weg geht über einsame Felder an blühendem Mohn und Margariten vorbei. Irgendwann an einer kleinen Senke mit einem zu überquerenden Fluss treffe ich dann auch Lieke wieder, sie macht gegenseitiges Beweisfoto mit zwei anderen Pilgern. Ich gehe erstmal weiter, ich will endlich ankommen.

In Guillena empfängt uns ein Schild, dass wir wegen der Herberge bei der Polizei vorstellig werden sollen. Ich bin dann doch wieder ganz dankbar, dass Lieke direkt nach mir auftaucht. In couragiertem Spanisch sagt sie „hola“ und „albergue“, während mich die Polizeistation an sich schon etwas einschüchtert. Aber der süße Polizist erklärt uns freundlich die Richtung der Herberge, wir bekommen unseren ersten Stempel und sind gespannt.

Auf einem Sportplatz erwartet uns in einem containerartigen Gebäude unsere erste Schlafgelegenheit. Im Führer als „unkomfortabel“ und mit Sportmatten auf dem Boden beschrieben, hätte ich mich eigentlich auf diese ehemalige Umkleidekabine einstellen können. Es gibt sogar fünf Stockbetten sowie Duschen, trotzdem bin ich etwas desillusioniert. Lieke feiert ein großes Hallo mit zwei Landsmännern, und ich verschwinde schnell in die (ausschließlich) kalten Duschen. Lieke lacht wieder dröhnend anlässlich meines verfrorenen Gesichtsausdrucks und meines Kommentars einer „refreshing experience“.

In der Herberge gibt es nichts zu tun, außer einem schwarz gekleideten, dauerrauchenden Spanier und den Holländern ist auch sonst niemand da. Ich setze mich auf den Sportplatz in die Sonne und versuche, das Gute an dieser Untätigkeit zu sehen. Spontan hätte ich mir vielleicht einen tollen Supermarkt oder eine große zu erkundende Herberge oder einen Haufen spannender Mitpilger gewünscht, aber ich sehe ein, dass diese verordnete Ruhe sicher auch ihr Gutes hat.

Bis zum Abend und eventueller Ladenöffnungszeiten tingele ich zwischen Sportplatz und Herberge her, mal mit Essen, mal mit Tagebuch und Führer. Zum ersten Mal ist mir in einer Herberge unwohl. Der Spanier ist mir höchst suspekt; wenn er nicht raucht, liegt er auf seinem Bett und schaut an die Decke. Mir ist unwohl beim Gedanken, ihn so allein mit meinem Rucksack zu lassen. Die Toiletten tragen auch zum Unwohlsein bei. Sie werden durch kleine westernartige Schwingtüren abgetrennt, nach oben und unten mit viel Luft. Irgendwie hat man Direktanschluss zu den Pilgern auf ihren Betten, und ohne Klopapier ist das auch nichts.

Gegen 5 machen Lieke und ich uns auf zur Supermarktsuche. Jemand empfiehlt uns einen „großen Supermarkt“ immer geradeaus. Groß ist der kleine Tante Emma-Laden zwar nicht, aber für die übliche Grundausstattung (sowie Klopapier) reicht es. Beim Nachhauseweg komme ich auf eine Hauptstraße mit großem Trubel, vielen Restaurants und auch wirklich größeren Läden. Nun ja. Ich verlaufe mich ziemlich, meine Orientierung ist noch moderat, komme aber durch eine rasante Abkürzung über eine Weide wieder erleichtert zum „polideportivo“.

In der Herberge ist mittlerweile auch der langsame Pilger von Santiponce angekommen, es ist ein ganz netter Franzose (der natürlich auch schon ganz Frankreich und Spanien durchpilgert hat) und vor seiner Rente die Triebwerke von Ariane 5 konstruiert hat. Auch mit dem Spanier beginne ich ein kurzes Gespräch, vielleicht wird er mir dadurch ja sympathischer. Leider ist eher das Gegenteil der Fall. Er spricht unheimlich schnell und schwer verständlich, vielleicht auch, weil er Katalane ist, hängt an seine Worttiraden gerne mal ein „schau einer an, das arme Mädchen versteht ja kein Wort davon“, unterbricht meine kläglichen spanischen Versuche sofort und schürt zudem noch meine Rucksackbesorgnis, indem er mich aufklärt, dass die Jugend hier sehr suspekt ist, drogas, sabes, und man da seine Sachen nie aus den Augen lassen darf. Von der Jugend weiß ich zwar nichts, aber dass ich nichts mehr aus den Augen lasse, das leuchtet mir ein.

So gehe ich dann auch gleich gegen 20.00 ins Bett. Manchmal ist Schlafen und auf einen neuen, besseren Tag warten die beste Lösung. Irgendwann höre ich durch meine Ohrstöpsel aus dem Rucksack mein Handy klingeln, irgendwann läuft der Polizist suchend und fluchend durch den Raum, und später im Stockdunkeln wummert es an der Tür. Anscheinend ist es ein sehr spät eintreffender Radpilger, den der Spanier noch schnell einlässt.

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